«Das Buch könnte auch Frauen in China Mut machen»
Der Erzählband von Corinne Rufli über das Leben älterer lesbischer Schweizerinnen Mitte des letzten Jahrhunderts soll auf Chinesisch übersetzt werden. Das Buch dürfte die Diskussion über Homosexualität in China beflügeln: Denn auch wenn im Reich der Mitte die Toleranz gegenüber Homosexuellen in den letzten Jahren zugenommen hat, so haben Menschen, die kein hetero-normatives Leben führen, noch immer einen schwereren Stand als im Westen.
Qiao Mu (Pseudonym), die Übersetzerin des Buches «Seit dieser Nacht war ich wie verzaubert», ist begeistert von den Geschichten dieser über 70-jährigen Schweizerinnen, die aus ihrem Leben und auch von ihrer Liebe zu Frauen erzählen. «Trotz konkreter Unterschiede ist die gesellschaftliche Situation chinesischer Frauen von heute gewissermassen vergleichbar mit jener der Schweizer Protagonistinnen in den 50-er und 60er-Jahren. Mit ihren Erfahrungen könnten sie vielleicht den chinesischen Leserinnen und Lesern eine neue Perspektive bieten», meint Qiao Mu gegenüber swissinfo.ch.
Die Autorin Corinne Rufli wollte mit ihrem im letzten Jahr erschienenen Buch die Biografien älterer, lesbischer Frauen sichtbar machen und damit eine Sensibilität für unterschiedliche Lebensläufe schaffen. Die Historikerin wollte mit ihrem Erzählband auch aufzeigen, dass es «noch viel mehr gibt als unsere engen Vorstellungen vom Frausein». Und diese Frauen, so meint sie, könnten allenfalls «zum Vorbild für die jüngere Generation werden». Dass jetzt ihr Buch auf Chinesisch übersetzt werden soll, freut und überrascht sie zugleich.
swissinfo.ch: Ihr Buch wird sehr wahrscheinlich bald auf Chinesisch erscheinen. Wie kam es dazu?
Corinne Rufli: Es ist eine verrückte Sache und ein schöner Zufall. Eine Chinesin hat von meinem Buch gehört und mir gesagt, es müsste unbedingt auch auf Chinesisch übersetzt werden. Ich habe zuerst eher an Sprachen wie Englisch oder Spanisch gedacht. Aber Chinesisch? Das war schon eine Überraschung.
Eine weitere Chinesin hat nun ein erstes Kapitel übersetzt, und chinesische Verlage haben bereits Interesse signalisiert. Es ist für mich ein Abenteuer, denn ich kenne mich mit dem Buchhandel in China überhaupt nicht aus, und ich weiss nicht, wie offen man in China über lesbische Frauen schreiben darf. Spannend wird auch sein, wie man die deutschen Wörter «lesbisch» oder «frauenliebend» übersetzt. Da ich kein Chinesisch kann, werde ich das Buch in der chinesischen Übersetzung leider nie lesen können…
swissinfo.ch:Was versprechen und erhoffen Sie sich von einer Publikation in chinesischer Sprache?
C.R.: Wenn mein Buch auf Chinesisch erscheint und für alle interessierten Leserinnen und Leser zugänglich ist, dann sind meine Erwartungen bereits übertroffen. Für mich wäre es das grösste Geschenk, wenn das Buch Frauen (und Männern) Mut machen würde.
Das Buch soll auch junge, lesbische Chinesinnen motivieren, die Geschichten der älteren lesbischen Generation in ihrem Land aufzuschreiben und so in einen generationen-übergreifenden Dialog zu treten. Zudem können die Geschichten diese ältere Frauen-Generation sichtbar machen.
swissinfo.ch: Kennen Sie die Situation von Homosexuellen in China?
C.R.: Ich weiss nur sehr wenig über die Lebensbedingungen von Lesben und Schwulen in China, offenbar ist Repression gegenüber Homosexuellen keine Seltenheit. Es gibt aber, wie ich gehört habe, immer mehr Menschen, die sich in China organisieren, vernetzen und sich für mehr Rechte für Homosexuelle engagieren – auch dank dem Internet.
Wer vom Land kommt und in engen, patriarchalen, familiären Strukturen mit grosser sozialer Kontrolle lebt, hat in China, aber auch anderswo auf der Welt, grosse Mühe, sich überhaupt die gleichgeschlechtlichen Gefühle einzugestehen – geschweige denn, andere Lesben oder Schwule kennenzulernen.
Im Buch «Seit dieser Nacht war ich wie verzaubert. Frauenliebende Frauen über siebzig erzählen»Externer Link von Corinne Rufli, erschienen 2015 im Verlag «Hier und Jetzt», blicken elf ältere Frauen auf ihr Leben zurück.
Sie erzählen, wie sie ihre Beziehungen in der bürgerlichen Enge der 1940er- bis 1960er-Jahre gestalteten, wie sie einen Mann heirateten oder sich in eine Frau verliebten, und wie sie heute leben.
Ihre Geschichten sind voller Lebenslust, zeigen aber auch die Ausgrenzung von Frauen, die sich nicht dem Ideal der Hausfrau und Mutter unterwerfen wollten.
Es ist unfassbar, dass Menschen, weil sie lieben, unterdrückt werden. Die Regierung hätte es in der Hand, für mehr Liberalität einzustehen.
swissinfo.ch: Glauben Sie, dass die Geschichten Ihrer Protagonistinnen eine universelle Wirkung auslösen können, also auch für lesbische Frauen in China ein Vorbild sein könnten?
C.R.: Ja, das kann ich mir vorstellen. Auch wenn diese Frauen Schweizerinnen sind, auch wenn sie aus einer ganz anderen Kultur kommen und in total unterschiedlichen Welten leben: Alle Frauen aus meinem Buch haben auf ihre unterschiedliche Art für ihr Glück gekämpft. Sie haben trotz widriger Umstände – durch die Gesellschaft oder manchmal durch die Familie – ihre Gefühle zugelassen.
Sie standen für ihre Liebe ein, und diese Kraft half ihnen, in einer Gesellschaft, die frauenfeindlich und homophob war, ihr Leben so aufzubauen, wie es für sie stimmte. Sie schafften sich ihren Raum. Nicht jede Frau hatte die gleichen Möglichkeiten und Chancen. Doch was schön ist: Alle Frauen aus meinem Buch können heute versöhnt auf ihr Leben zurückschauen. Deshalb macht das Buch den Leserinnen und Lesern auch Mut: Mut, das Leben selbst in die Hand zu nehmen und für sein Glück einzustehen.
Zahlen China und Schweiz
Nach Schätzungen der chinesischen Gesundheitsbehörden leben in China rund 30 Millionen Homosexuelle, davon 10 Millionen Lesben. Eine andere Quelle spricht von einem 4%-Homosexuellen-Anteil der Bevölkerung.
Dass es (scheinbar) mehr homosexuelle Männer gibt, kann darauf zurückgeführt werden, dass wir in einem patriarchalen System leben, in dem die Männer eher dazu neigen, ihr Leben und ihre Sexualität selbstbestimmt zu leben. Frauen müssen sich hingegen eher unterordnen, auch ihre Sexualität.
In der Schweiz gehen Fachleute von einem Anteil zwischen 4 und 10% der erwachsenen Bevölkerung aus, die homosexuell oder bisexuell sind. In Städten ist der Anteil an Homosexuellen meist grösser als auf dem Land. Dies vermutlich, weil in Städten die Akzeptanz Homosexuellen gegenüber tendenziell grösser ist, es mehr Angebote gibt und entsprechend mehr Gleichgesinnte zu finden sind.
Wie ist die politische, rechtliche und gesellschaftliche Situation für Homosexuelle in Ihrem Land – in Geschichte und Gegenwart? Erzählen Sie es uns in den Kommentaren!
(Adaption: Gaby Ochsenbein)
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