Libanesisches Obdach für syrische Flüchtlinge
Mehr als 700'000 Syrer sind aus ihrem Land seit Ausbruch der Kämpfe geflüchtet. Im Libanon haben viele von Ihnen Obdach bei Familien erhalten, denen sie früher auch geholfen hatten, sagt Caroline Nanzer, Delegierte der Hilfsorganisation Caritas Schweiz.
Seit den Aufständen gegen das Regime von Bashar al-Assad im März 2011 haben Hunderttausende Syrer in Nachbarstaaten Zuflucht gesucht. Das UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge UNHCR hat allein im Libanon 160’000 Menschen registriert. Viele würden sich aber gar nicht registrieren lassen, sagt Caroline Nanzer, weil sie fürchteten, dass ihre Namen zuhause auf irgendwelchen schwarzen Listen landeten.
Trotz der enormen Anzahl hat die libanesische Regierung dem UNHCR nicht erlaubt, ein offizielles Lager einzurichten. Stattdessen haben die Flüchtlinge entweder Wohnungen in privaten Häusern gemietet oder Zelte in sogenannten Zeltsiedlungen auf dem Land von Privaten aufgestellt.
Das Hilfswerk Caritas Schweiz, das Katastrophen-, Wiederaufbau- und Entwicklungshilfe auf der ganzen Welt leistet, arbeitet bei der Unterstützung der syrischen Flüchtlinge mit zahlreichen Partnerorganisationen zusammen. Mit dem Einbruch der Kälte liefert das Werk Decken und warme Kleider, wasserdichte Zeltabdeckungen und verteilt Grundnahrungsmittel und Medikamente.
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swissinfo.ch: Auf welche Hilfsbedürftigen konzentriert Caritas seine Unterstützung?
Caroline Nanzer: Wir kümmern uns um Familien in Gemeinschaftszelten. Solche Zelte finden wir in ganz Libanon, im Bekaa Tal, aber auch im Norden vor. Wir haben uns entschieden, diese Familien zu unterstützen, weil sie die Verletzlichsten sind und es sich nicht leisten können, Mieten zu bezahlen.
Im Bekaa-Tal, wo 60 bis 70 Prozent der syrischen Flüchtlinge leben, sind die Preise in die Höhe geschossen.
swissinfo.ch: Führt die Entwicklung zu Spannungen mit der lokalen libanesischen Bevölkerung?
C.N.: 50 Prozent der syrischen Familien haben Obdach in libanesischen Familien gefunden. Die Bevölkerung hat extrem viel geholfen.
Ich habe viele Geschichten gehört über libanesische Familien, die nach Syrien geflohen waren, als der Libanon 2006 von Israel angegriffen worden war. Als die Unruhen in Syrien ausbrachen, flohen viele syrische Familien, die 2006 libanesische Familien aufgenommen hatten, in den Libanon, um bei den gleichen Familien Unterschlupf zu finden, mit denen sie seit dem Krieg befreundet sind.
Aber Regionen wie das Bekaa-Tal oder der Norden, wo sich die Syrer niedergelassen haben, sind immer noch sehr arm.
Kürzlich haben sich libanesische Familien darüber beklagt, dass die Hilfe nur Syrern, aber nicht libanesischen Familien zu Gute komme, die diesen Flüchtlingen helfen würden. Das sorgt derzeit für Spannungen.
Laut Schätzungen sind 700’000 Menschen aus Syrien nach Jordanien, Libanon, in die Türkei, Ägypten und Irak geflohen, um dem Konflikt in Syrien zu entkommen, der im März 2011 begann.
Mehr als 540’000 sind laut dem UNO-Büro für Koordination und humanitäre Angelegenheiten für die UNO-Unterstützung angemeldet.
Im Libanon hat das UNHCR rund 160’000 registriert.
Allein in den letzten sechs Wochen haben 140’000 Menschen Syrien verlassen.
Laut einem Bericht der UNO wird sich die Zahl der Flüchtlinge in den Nachbarstaaten Syriens bis nächsten Juni auf geschätzte 1,1 Millionen erhöhen, wenn der Konflikt nicht beendet wird.
Die UNO fordert 1,5 Milliarden Dollar für die Unterstützung der syrischen Flüchtlinge.
Das Internationale Rote Kreuz hat in Zusammenarbeit mit dem syrischen Roten Halbmond laut eigenen Angaben 10 Millionen Menschen mit Trinkwasser versorgt.
swissinfo.ch: Unter den Flüchtlingen, die aus Syrien ankamen, befinden sich sowohl einige Sympathisanten der Opposition wie der Regierung. Ist das für Sie ein Problem?
C.N.: Als humanitäre Organisation besteht unsere Aufgabe nur darin, gefährdeten Familien zu helfen. Es gibt Spannungen, das kann ich nicht bestreiten, aber sie behindern unsere Arbeit nicht.
Alle Familien sind vor dem Unheil geflohen, weil ihre Wohnviertel bombardiert wurden, und das betrifft alle Gemeinschaften, ob es Rebellen sind oder Familien ohne politische Zugehörigkeit. Einige Flüchtlinge geben nicht zu erkennen, ob sie das Regime noch unterstützen würden. Sie sagen uns nur, dass sie in Libanon überleben wollen, um danach wieder nach Syrien heimkehren zu können.
Aus den zahlreichen Gesprächen habe ich erfahren, dass es auf beiden Seiten zu Missbräuchen kam.
swissinfo.ch: Welche Geschichten haben Sie am meisten berührt?
C.N.: Die Geschichten über Frauen, die ohne ihre Männer kamen und die Rolle des Familienoberhaupts übernahmen. Das ist eine starke Veränderung in Bezug auf die Geschlechterrollen. In der syrischen Gesellschaft hatten sie eine traditionelle Rolle als Hausfrauen, die sich um die Kinder kümmerten.
Hier suchen sie Arbeit und entdecken, was es bedeutet, eine ökonomische Funktion in der Familie zu haben. Ich bin sicher, dass dies einen Einfluss haben wird, wenn sie dereinst nach Syrien zurückkehren werden.
Ich hoffe, dass wir mehr Programme erhalten, die sich auf die Rolle der Frauen konzentrieren. Vertreibungen gehören zu den schlimmsten Situationen, die es gibt. Aber wenn es uns als humanitärer Organisation gelingt, einige Keimlinge zugunsten der Frauen in der Gesellschaft zu pflanzen, haben wir ein Ziel erreicht, in dem wir ihre Fähigkeiten entwickeln.
Das Problem besteht darin, dass es in den Regionen, wo sie sich niedergelassen haben, fast keine Arbeit gibt – abgesehen von der Landwirtschaft und der Baubranche, wo aber Frauen kaum beschäftigt werden.
Das UNO-Entwicklungsprogramm (PNUD) sieht vor, Programme zu entwickeln, welche die libanesischen Gastgemeinschaften einschliessen. Eines besteht zum Beispiel darin, Frauen zu schulen, Kleinbetriebe zu errichten, wie zum Beispiel Bäckereien. Mit Einfallsreichtum und ein bisschen Startgeld lässt sich etwas machen.
swissinfo.ch: Was ist mit den Kindern und deren Ausbildung?
C.N.: Das ist eine grosse Herausforderung. Es ist nicht das erste Mal, dass der Libanon viele Flüchtlinge aufnimmt. Vor einigen Jahren kamen zum Beispiel viele Menschen aus Irak. Programme, die damals für Iraker entwickelt wurden, können jetzt für Syrer übernommen werden.
Die Familien sind jedenfalls gewillt, ihre Kinder für den Schulunterricht anzumelden. Aber es gibt auch grosse Ängste. Im Bekaa-Tal gab es viele Entführungen. Die Familien sprechen nicht direkt davon, aber sie haben Angst, ihre Kinder weggehen zu lassen.
Es gibt noch andere Probleme: Die Familien sind überall verteilt, einige in sehr abgelegenen Regionen. Es ist schwierig, die Kinder in die Schule zu bringen, weil es teuer ist. Das UNHCR und Unicef haben viel investiert, um diese Familien zu unterstützen.
Und das Caritas-Migrationszentrum hat ein Programm auf die Beine gestellt, das bis Ende Jahr Schulunterricht für 11’000 Kinder gewährleisten soll. Auf dieses Programm werden wir uns 2013 noch stärker konzentrieren, damit die Kinder weiterhin eine Ausbildung erhalten.
Übertragung aus dem Englischen: Peter Siegenthaler
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