Der Rassentheoretiker bleibt Ehrenmitglied im Alpenclub
Das Agassizhorn in den Berner Alpen ist nach einem Schweizer Gletscherforscher aus dem 19. Jahrhundert benannt. Das wäre an sich nichts Besonderes. Doch Louis Agassiz war auch ein Rassentheoretiker und vehementer Verfechter der Rassentrennung in den USA.
Nach den gewaltsamen Ausschreitungen von Neonazis und Anhängern des Ku-Klux-Klans in Charlottesville in den USA steigt die konfliktreiche Vergangenheit des Landes wieder an die Oberfläche. Die Wunden des Bürgerkriegs (1861-1865) reissen wieder auf, nachdem man die Rassenfrage längst für überwunden hielt.
In Charlottesville (und in vielen anderen Städten im Land) wird zurzeit teilweise heftig darüber debattiert, ob Statuen von Konföderierten-Generälen wie Robert E. Lee entfernt werden sollen oder nicht. Nach den Ausschreitungen in Charlottesville wurden Konföderierten-Denkmäler unter anderem in Baltimore aus Angst vor Protesten über Nacht entfernt.
In der Schweiz sorgt eine historische Figur, die mit der Geschichte der Segregation in Amerika verbunden ist, seit Jahren für Diskussionen. Der Schweizer Forscher und eingebürgerte Amerikaner Louis Agassiz (1807-1873) gilt in den USA als einer der GründerväterExterner Link der Naturwissenschaft. Im Verlauf seiner langen Karriere in der damaligen Neuen Welt hatten sich seine rassistischen Theorien verstärkt; es waren Thesen, die als wissenschaftliche RückendeckungExterner Link für die «Jim-Crow»-Gesetze dienten, mit denen die Rassentrennung in den USA rechtlich zementiert wurde.
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Ehrenmitglied im Alpenclub
Eine wenig ruhmreiche, dunkle Facette des Forschers, die das Komitee «Démonter Louis Agassiz», das vom St. Galler Historiker Hans Fässler ins Leben gerufen wurde, seit 2007 anprangert. Als symbolischen Akt lancierte der Antirassist Fässler eine Kampagne, um das Agassizhorn in den Berner Alpen in Rentyhorn umzubenennen. Renty war ein Sklave, den Agassiz 1850 in Amerika als «wissenschaftlichen Beweis» für die Minderwertigkeit der «schwarzen Rasse» hatte fotografieren lassen.
Das Komitee «Démonter Louis Agassiz»Externer Link wollte auch, dass der Schweizerische Alpenclub (SAC) Louis AgassizExterner Link die Ehrenmitgliedschaft aberkannt, die er dem Gletscherforscher 1865 verliehen hatte. Letzte Woche entschied der SAC-Zentralvorstand, die Forderung abzulehnen.
Agassiz aus der Liste der ehemaligen Ehrenmitglieder zu streichen käme einer Fälschung der Geschichte gleich, hiess es in einer SAC-Mitteilung. Es sei «viel wert- und sinnvoller, die Geschichte Agassiz› aufzuarbeiten, anstatt sie auszulöschen». Heute sei es undenkbar, dass jemand mit rassistischem Gedankengut SAC-Ehrenmitglied würde.
Geschichte umschreiben
Pierre Hazan, Experte für Erinnerungskultur und Gedenken im Zusammenhang mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit und assoziierter Professor der Universität Neuenburg, führt diese Argumentation aus. Mit Blick auf die Ereignisse in Charlottesville schreibt Hazan, der auch redaktioneller Berater von Justiceinfo.netExterner Link ist, auf dieser Onlineplattform:
«Wie sollte man den Wunsch nicht verstehen, Symbole einer vergangenen Epoche loswerden zu wollen, in der gewissen Menschen ihre Menschlichkeit unter dem Vorwand aberkannt wurde, dass ihre Haut eine andere Farbe hatte? Aber auch wenn man die Denkmäler aus dem öffentlichen Raum entfernt, die Geschichte kann man nicht auslöschen (…). Sollte man die alten Idole systematisch entfernen, um sie durch neuere zu ersetzen, die dann wiederum Platz machen müssen, wie in einem Karussell, das sich stets weiterdreht? Oder sollte man sie nicht eher in einen Kontext setzen, d.h. mit Schlüsselelementen dazu beitragen die Entwicklung von Gesellschaften besser zu verstehen? Das ist es auch, was Präsident Trump in einem kurzen Moment der Klarheit in einem Tweet schrieb: ‹Man kann die Geschichte nicht ändern, aber von ihr lernen›, nachdem … er doch zuvor weisse Rassisten und Antifaschisten in denselben Topf geworfen hatte!»
Seine historischen Nachforschungen brachten Fässler dazu, im Fall Agassiz aktiv zu werden, dessen öffentliche Figur schon unmittelbar nach seinem Tod zurechtgebogen worden war, um seine dunklen Seiten auszublenden und ein nur heldenhaftes Bild des Forschers zu erhalten.
In einem Versuch, zu einer nuancierten Einschätzung des Forschers zu kommen, schrieb der Historiker Jean-Paul SchaerExterner Link 2007: «Agassiz, ein Vertreter seiner Zeit, war stärker als andere an der Debatte um menschliche Rassen beteiligt und konnte sich nicht von den Vorurteilen lösen, die seine Epoche markierten. Dies lässt ihn nicht gut aussehen, es erscheint uns allerdings falsch, ihn als jemanden zu betrachten, der grundsätzlich weiter als andere über diese Verirrungen der Mehrheit seiner Zeitgenossen hinausging.»
Verirrungen, die schliesslich im 20. Jahrhundert unter anderem die Vernichtungsmaschinerie Nazi-Deutschlands und das Apartheidregime in Südafrika nähren würden.
Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch
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