Machtmenschen glauben oft, immun zu sein
Die Affäre um den ehemaligen IWF-Direktor Dominique Strauss-Kahn sorgt weltweit für Schlagzeilen. Dass Männer in höchsten Ämtern wegen Sexualdelikten beschuldigt werden, kommt immer wieder vor. Das sei kein Zufall, sagt der Psychologieprofessor Udo Rauchfleisch.
Nachdem Strauss-Kahn eine Kaution im Umfang von insgesamt 6 Millionen Dollar hinterlegt hat, wurde er vor einigen Tagen auf freien Fuss gesetzt. Er darf jedoch eine vom Gericht akzeptierte Wohnung nicht verlassen und muss eine elektronische Fussfessel tragen.
Die amerikanischen Jutsizbehörden werfen Strauss-Kahn vor, ein Zimmermädchen in einem New Yorker Hotel überfallen und zum Oralsex gezwungen zu haben. Nach seiner Festnahme aus der 1. Klasse eines Air-France-Fluges sass er zuerst in Polizeigewahrsam in Harlem und dann in einer Einzelzelle auf der Gefängnisinsel Rikers Island im New Yorker East River.
Laut der Staatsanwaltschaft sind die Beweise gegen Strauss-Kahn umfangreich. Der nächste Gerichtstermin ist für den 6. Juni angesetzt. Strauss-Kahn weist die Vorwürfe zurück.
swissinfo.ch: Unabhängig davon, ob Strauss-Kahn schuldig gesprochen wird oder nicht, ist es eine Tatsache, dass Männer in Machtpositionen mit Vorwürfen des sexuellen Missbrauchs beschuldigt werden. Wie kommen solche Menschen dazu, so etwas zu tun? Weshalb nehmen sie nicht einfach einen Escort-Service in Anspruch?
Udo Rauchfleisch: Sie könnten ihre Sexualität tatsächlich auf eine andere Art leben, aber: Männer in Machtpositionen, haben sich daran gewöhnt, dass das, was sie im Moment wollen, auch direkt umgesetzt wird, ohne, dass sie sich darum kümmern müssen, ob das für das Gegenüber angenehm oder unangenehm ist oder ob irgendwelche Hinderungsgründe bestehen. Ihre eigene Wahrnehmung und ihre eigenen Wünsche sind das allein Dominierende.
Obschon ein solcher Mann es verlernt hat, seine eigenen Gefühle wahrzunehmen, gibt es aber auch bei ihm sexuelles Begehren, das nach Befriedigung drängt. Gemäss seinem sonstigen Verhalten «nimmt» er sich auch in dieser Hinsicht, was er will. Seine Umgebung verstärkt diese Haltung noch, indem er sich mit Menschen umgibt, die keinen Widerspruch wagen und ihn dadurch in der Illusion bestärken, er sei immer und überall im Recht.
swissinfo.ch: Männer, die so etwas machen, wissen ja im Moment ganz genau, dass sie ihren eigenen Absturz riskieren. Wieso tun sie es dennoch?
U.R. Ich bezweifle, dass sie sich der Tragweite des Ganzen bewusst sind, denn dann würden sie es tatsächlich nicht machen, denn aufgrund ihrer Position und ihrer bisherigen Tätigkeit sind sie sich daran gewöhnt, sich sehr genau zu überlegen, was sie tun und wie sie sich sinnvollerweise verhalten sollen.
Dass die gleiche Person in einer solchen Situation plötzlich alle rationalen Überlegungen und alle Steuerungsmechanismen über Bord wirft, ist schwer verständlich. Dennoch war sie sich vermutlich nicht im Klaren darüber, was sie im Moment riskiert. Der Täter ist wahrscheinlich ausschliesslich vom Wunsch beherrscht, jetzt Sexualität zu haben. Wenn überhaupt eine kritische innerliche Einsprache erfolgt, so geschieht dies in der Vorstellung, dass es nicht rauskommen und keine Probleme geben werde.
Aufgrund der immensen Machtdifferenz zwischen ihm und seinem Opfer macht sich der Täter wahrscheinlich die Überlegung, dass es das Opfer nie wagen würde, irgendwie gegen ihn Stellung zu nehmen.
swissinfo.ch: Bedeutet das, dass Leute in Toppositionen eher gefährdet sind, solche Dinge zu tun?
U.R. Ja, sie fühlen sich immun dagegen, dass sie in irgend einer Form zur Rechenschaft gezogen werden. Ich denke, das Problem liegt auch darin, dass sie in ihrer Vergangenheit vielfach diese Erfahrung gemacht haben: Sie können manche Dinge tun, die nie auffallen.
Da wagt sich nie jemand, sich gegen sie zu stellen und dann kommt es plötzlich zu solch gravierenden Dingen, weil die Vorerfahrung eben ist, «mich zieht niemand zur Rechenschaft».
swissinfo.ch: Gegen Strauss-Kahn liegen ja seit Jahren verschiedene Vorwürfe in der Luft. Hinter seinem Rücken wurde das sicher zur Kenntnis genommen, und man hat darüber geredet. Dennoch ist es nie zu einer Anklage gekommen.
U.R.: Das ist genau das Problem. Es gibt Entwicklungen, die ganz langsam erfolgen. Insofern kann man die Schuld nicht nur bei dem Täter suchen, sondern man muss sich auch Fragen, ob die Umgebung nicht viel eher hätte reagieren müssen und können. Aber eben: Da haben sich viele nicht getraut, und man hat das als «Kavaliersdelikt» wohl auch ein Stück runter gespielt. In dem Moment, wo es dann ganz gravierend wird, da bricht das Ganze plötzlich auf.
Die Umgebung, die vorher sich nicht nur nicht getraute zu intervenieren, sondern es gleichzeitig in einem gewissen Sinn auch genossen hat zuzusehen, dass man tun und lassen kann, was man will, entwickelt dann plötzlich auch heftige Schadenfreude.
swissinfo.ch: Vergewaltigung ist ein krimineller Akt und hat – wenn sie aufgedeckt und bewiesen wird – entsprechende strafrechtliche Folgen. Gleichzeitig zeugt sie auch von absolut fehlendem Respekt. Woher kommt das?
U.R: Man kann sich fragen, ob es Menschen, die in solche Toppositionen kommen, schon mal primär an einem gewissen Respekt vor anderen Personen und der Fähigkeit und Bereitschaft fehlt, sich in andere Menschen einzufühlen.
Um in solche Positionen zu kommen, muss man auch ein bisschen rücksichtslos und auf seinen Vorteil bedacht sein und sich gegen Konkurrentinnen und Konkurrenten durchsetzen. Die ganze Fehlentwicklung durch diese Art von Sozialisation führt zur Haltung, «ich tue und lasse, was mir nützt, und andere Menschen sind mir ziemlich egal». Diese Selbstherrlichkeit verstärkt sich immer mehr, und die Einfühlung in andere Menschen reduziert sich zusehends.
Gewalt – egal in welcher Form – wäre ja nicht möglich, wenn man sich in das Opfer einfühlte.
swissinfo.ch: Einmal oben angekommen, müssen diese Leute nichts Alltägliches mehr selber tun. Kein Telefonat erledigen, keinen Abfallsack raus stellen. Welche Rolle spielt das?
U.R.: Das ist genau das Problem. Der Bezug zum Alltag fällt weg. Es ist ein bisschen wie beim Sonnenkönig, der einen Hofstaat um sich herum hat und keinen Finger krümmen muss. Das sieht zwar sehr verlockend aus. Das Schlimme daran ist jedoch die Entfernung von der Realität, die dann auch dazu führt, dass die sozialen Spielregeln ausser Kraft gesetzt werden, da sie auch sonst nicht gelten. Dazu kommt, dass in Toppositionen, der Beruf quasi zur Identität wird.
swissinfo.ch: Was muss oder kann die Gesellschaft denn tun, um dieses Phänomen zu verhindern?
U.R.: Will man einen solchen Machtmissbrauch verhindern, so müsste man schon bei der Erziehung im Elternhaus und in der Schule beginnen, indem bei Buben der Gefühlsentwicklung ein grösserer Raum gegeben wird und Buben nicht in erster Linie auf Leistung hin «getrimmt» werden. Die Emotionalität – das heisst das Wahrnehmen der eigenen Gefühle und die Einfühlung in andere Menschen – müsste dann auch in der Ausbildung von Kaderpersonal ein grosses Gewicht erhalten.
Ausserdem müssten die Männer in Toppositionen ein ihre Tätigkeit begleitendes Coaching haben, in dem sie ihre Verhaltensweisen und Gefühle mit einer aussenstehenden, nicht von ihnen abhängigen Fachperson diskutieren können und frühzeitig auf Fehlverhaltensweisen aufmerksam werden.
Schliesslich müssten auch die Mächtigen einer gewissen Kontrolle durch unabhängige staatliche Institutionen unterliegen.
Udo Rauchfleisch (geboren 1942) ist emeritierter Professor für klinische Psychologie an der Universität Basel.
Er ist zudem Autor zahlreicher Publikationen sowie Gastprofessor an verschiedenen in- und ausländischen Universitäten und Fachhochschulen.
Seit 1999 führt er in Binningen eine Privatpraxis für Psychotherapie und Beratung.
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