Machtlos gegen die Mafia
Tessiner Bauunternehmer:innen fordern von Bundesanwalt Stefan Blättler mehr Engagement im Kampf gegen die Mafia. Das Problem beschränkt sich jedoch nicht auf den Südkanton.
«Es ist unbestritten, dass die Mafia in der Schweiz präsent ist. Doch es reicht nicht mehr, ihre Existenz anzuerkennen. Es genügt auch nicht mehr, Situationen zu analysieren. Man muss kämpfen, das heisst, Untersuchungsergebnisse in Anklageschriften umwandeln.»
Mit diesen Worten eröffnete Bundesanwalt Stefan Blättler am 19. Mai in Mendrisio eine Diskussionsrunde zum Thema «Kriminelle Infiltration». Die Tessiner Sektion des Schweizerischen Baumeisterverbands (SBV) hatte zum Treffen geladen.
Der Grund: Viele Unternehmer:innen im Südkanton haben Angst vor der Mafia. Nicht so sehr vor den kriminellen Clans an sich, sondern vor der wirtschaftlichen Konkurrenz, die von diesen unterwandert wird.
Die Präsenz des organisierten Verbrechens in der Schweiz habe sich in den letzten Jahren verändert, sagt Rechtsanwältin Rosa Cappa von der Kanzlei Gaggini & Partners in Lugano. «Die kriminellen Organisationen haben nicht mehr nur ihre Bankkonten in der Schweiz, sondern waschen hier auch ihr Geld und investieren in das lokale Bau- und Gastrogewerbe. Dadurch erzeugen sie einen unfairen Wettbewerb gegenüber lokalen Unternehmenden.»
Cappa arbeitete von 2003 bis 2015 bei der Bundesanwaltschaft (BA), wo sie unter anderem für Ermittlungen gegen die Mafia zuständig war. Vor kurzem beschloss sie, ihre Bedenken öffentlich zu äussern, um die Gesellschaft für das Problem zu sensibilisieren.
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«In den letzten Jahren war die BA wenig aktiv und handelte fast ausschliesslich auf Grundlage italienischer Rechtshilfegesuche», kritisiert sie. In der Ära von Bundesanwaltschaft Michael Lauber habe die mafiöse Infiltration der Schweizer Wirtschaft nie Priorität gehabt. «Dies zeigte sich auch darin, dass die Zuständigen in Bern und damit weit weg vom eigentlichen Problem waren», so Cappa.
Laubers Nachfolger Stefan Blättler zeigt mehr Engagement. So führte ihn seine erste Auslandreise nach Italien, wo er sich mit seinen Kolleg:innen über die Ermittlungen gegen die kriminellen Clans austauschte. Zudem soll die BA einen neuen Magistraten ernannt haben, der Blättlers Team in Sachen Mafia unterstützt.
Die Schweiz: Zufluchtsort für Mafiosi?
Die Situation betrifft aber nicht nur das Tessin. Daten des Bundesamts für Polizei (Fedpol) zeigen, dass Mafia-Organisationen aus Italien mittlerweile in 18 Schweizer Kantonen präsent sind. Und laut Bundesstaatsanwalt Sergio Mastroianni ist die erste Sprache der ‹Ndrangheta in der Schweiz inzwischen Schweizerdeutsch.
Die Bundespolizei widmete einen grossen Teil ihres Jahresberichts 2021 der Präsenz der Mafia in der Schweiz. Das Thema war angesichts zahlreicher Ermittlungen in den Jahren 2020 und 2021 öfters in den Nachrichten aufgetaucht.
Die Ereignisse bestätigen nicht nur, dass sich Clans in mehreren Kantonen und Wirtschaftszweigen etabliert haben, sondern zeigen auch, dass die Schweiz zu einem Zufluchtsort für Mafiosi geworden ist.
Dies sagt auch Alessandra Dolci, Leiterin der Antimafia-Einheit in Mailand. Mehrer Angeklagte hätten ihr gesagt, dass sie sich in der Schweiz sicherer fühlten als in Italien, erzählt sie. «Das liegt daran, dass es im Schweizer Recht keine Entsprechung zu unserem Artikel 416bis gibt.»
Dieser Artikel definiert im italienischen Strafgesetzbuch das Verbrechen der mafiaähnlichen Vereinigung. In der Schweiz wird die «Beteiligung» oder «Unterstützung einer kriminellen Organisation» zwar durch Artikel 260ter des Strafgesetzbuchs geahndet, doch obwohl dieser kürzlich verschärft wurde, sind die vorgesehenen Massnahmen nicht mit denen in Italien vergleichbar.
Nur wenige Anklagen
Die Zahl der Anklagen, die in den letzten Jahren wegen mafiösen Straftaten vor Gericht gebracht worden sind, ist entsprechend klein.
Der vielleicht bedeutendste Fall, der vor dem Bundesstrafgericht in Bellinzona verhandelt wurde, ist der von Franco Longo. Der als Bankier der ‹Ndrangheta bezeichnete Mann hatte sich im Tessin niedergelassen und dort mehrere im Bausektor tätige Unternehmen gegründet. Er wusch das Geld der gefürchteten Martino-Brüder, die mit einem mächtigen kalabrischen Clan verbunden waren.
Um einer Auslieferung an Italien zu entgehen, beschloss Longo, mit der Schweiz zu kooperieren, die Taten zuzugeben und sich vor Gericht zu verantworten. 2015 lehnten die Richter jedoch den zwischen Longo und der Staatsanwältin Dounia Rezzonico vereinbarten Prozess im vereinfachten Verfahren ab.
Zwei Jahre später stand Longo zusammen mit Oliver Camponovo, einem ehemaligen freisinnigen Politiker und Treuhänder aus dem Tessin, vor Gericht. Der Italiener wurde wegen Beteiligung an einer kriminellen Organisation und Geldwäsche schliesslich zu fünfeinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Der Treuhänder erhielt wegen schwerer Geldwäsche eine dreijährige Haftstrafe mit Teilbewährung.
Geldwäsche, aber ohne Absicht
Der Fall ist noch nicht abgeschlossen. Das Bundesgericht (BGer) in Lausanne hiess kürzlich eine Beschwerde von Camponovo gut und verwies den Fall zur Neuverhandlung nach Bellinzona zurück, allerdings nicht wegen schwerer Geldwäscherei, sondern wegen «mangelnder Sorgfalt bei Finanzgeschäften»Externer Link.
Nach Ansicht des Gerichts in Lausanne waren die fraglichen Gelder zwar illegalen Ursprungs, jedoch fehlten Beweise, um zu belegen, dass der Treuhänder davon Kenntnis hatte. Der Vorsatz konnte deshalb nicht nachgewiesen werden.
Für Anwältin Cappa zeigt dieses Ergebnis «die Schwierigkeiten bei solchen Ermittlungen», die auch eine entmutigende Wirkung auf die Staatsanwälte hätten. Sie betont, dass «das Urteil des BGer auf jeden Fall bestätigt hat, dass der Kunde des Treuhänders Franco Longo der ‹Ndrangheta angehörte und im Tessin für die Clans tätig war».
Der andere Fall, in dem es zu einer Verurteilung kam, betraf einen im Kanton Bern lebenden italienischen Staatsbürger mit dem Spitznamen Cosimo Le Suisse. Auch hier war der Fall von einem Hin- und Her zwischen Bellinzona und Lausanne geprägt.
Ende 2021 reduzierte das Gericht in Bellinzona schliesslich seine Strafe, insbesondere aufgrund der «Verletzung des Beschleunigungsgrundsatzes». In ihrem Urteil erinnerten die Richter daran, dass der Mann zwischen 2003 und 2011 an den Aktivitäten des Mailänder Zweigs der ‹Ndrangheta teilgenommen hatte.
Ausliefern oder verfolgen?
Diese Beispiele zeigen, dass Mafia-Fälle nicht nur aus ermittlungstechnischer, sondern auch aus rechtlicher Sicht komplex sind. Deshalb zog es die Schweiz lange Zeit vor, die mutmasslichen Mafiosi an Italien auszuliefern.
Dies geschah auch im Fall der Frauenfelder Cosca, der ersten in der Schweiz anerkannten Zelle der ‹Ndrangheta. Sie war dort seit den 1970er-Jahren aktiv. Nachdem die beiden mutmasslichen Anführer der Zelle, Antonio Nesci und Raffaele Albanese, in Italien verhaftet worden waren, tauchte ein Video von ihren Treffen auf.
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Die Schweiz stand vor dem Dilemma: Was sollte mit den anderen in der Schweiz lebenden Mitgliedern geschehen? Seit 2009 ermittelte die Bundesanwaltschaft gegen die mutmasslichen Mafiosi aus Frauenfeld.
Die BA befürchtete jedoch, dass sie nach dem Fall Quatur, einer früheren Ermittlung gegen die ‹Ndrangheta, die aufgrund von Ermittlungs- und Verfahrensfehlern gescheitert war, erneut eine Niederlage erleiden würde.
Bern entschied sich daher für die Strategie mit dem geringsten Risiko: Ermittler verhafteten die Verdächtigen in Frauenfeld und lieferten sie nach Italien aus. Dort wurden die Angeklagten in der Berufung freigesprochen, weil ihnen nicht nachgewiesen werden konnte, dass sie in der Schweiz als Mafiosi gehandelt hatten.
«Die Idee, sich an Italien zu wenden, wenn das Verbrechen in der Schweiz begangen wurde, ist falsch», sagte Antonio Nicaso, Mafia-Experte und Universitätsprofessor in Kanada nach dem Freispruch. «Es ist an der Zeit, dass der Bund beginnt, Verantwortung zu übernehmen und sich des Problems anzunehmen. Es gibt Gründe, weshalb solche Personen in die Schweiz kommen.»
Frage der Zuständigkeit
Ex-Staatsanwältin Cappa findet, es sei von entscheidender Bedeutung, dass die Ermittlungen auf sensible Aktivitäten ausgerichtet werden, zum Beispiel «Unregelmässigkeiten bei öffentlichen Ausschreibungen, Konkursdelikte und Verstösse gegen Arbeitnehmerschutz- und Sozialversicherungsvorschriften». Diese Elemente könnten auf die Präsenz einer kriminellen Organisation hinweisen. «Leider können die Strafverfolgungsbehörden diese Verbindungen nicht immer herstellen.»
Ein mögliches Beispiel betrifft die Alptransit-Baustelle. Nach einer Beschwerde einiger Arbeiter sowie Recherchen des italienischsprachigen Radios und Fernsehens (RSI) leitete die Staatsanwaltschaft Tessin eine Untersuchung gegen das italienische Unternehmen GCF (Generali Costruzioni Ferroviarie) ein, das im Bereich der Verlegung von Eisenbahnmaterial tätig war.
Das Unternehmen hatte als Teil eines Konsortiums mit anderen Firmen den Zuschlag erhalten, weil sein Angebot 30% unter dem der anderen Bewerber lag. Die Bauarbeiten waren von Missbräuchen gegenüber Arbeitnehmer:innen und einem Loch von rund drei Millionen Franken bei den Sozialversicherungsbeiträgen geprägt.
Die Ermittlungen der Tessiner Staatsanwaltschaft waren jedoch lückenhaft. Dies zeigten weitere Berichte der RSI. Da die Bundesanwaltschaft in diesem Fall nicht zuständig war – obwohl es sich um eine der grössten Baustellen der Schweiz handelte – konnte sie nichts unternehmen.
Ironischerweise wurde die Firma GCF kürzlich in Italien in eine Untersuchung verwickelt, weil sie angeblich Mafia-Clans im Rahmen grosser Eisenbahnverträge begünstigt hatte.
Die BA, die theoretisch für grenzüberschreitende Kriminalität zuständig ist, ist unterdessen mit einer Vielzahl von Bagatelldelikten beschäftigt. Die Staatsanwaltschaft muss sich jeden Monat mit Dutzenden von Fällen befassen, in denen es um Falschgeld, Helikopterabstürze, Gewalt gegen Zugbegleitende oder Verstösse gegen das Covid-19-Gesetz geht. Diese Delikte fallen in die Zuständigkeit des Bundes, führen aber meist zu sehr geringen Strafen.
Somit ist die BA mit weniger wichtigen Fällen überlastet, während sie gleichzeitig nicht in der Lage ist, den Einfluss der Mafia auf der grössten Baustelle der Schweiz zu untersuchen.
Übertragung aus dem Französischen: Christoph Kummer
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