Sizilianischer Urlaub ohne Schutzgeld
Durch Sizilien reisen und gleichzeitig ein Zeichen gegen die Mafia setzen: Dieses Ziel verfolgt "Addiopizzo Travel". Die Bewegung vermittelt Aufenthalte in Hotels und Restaurants, die keine Schutzgelder an die Mafiaorganisation Cosa Nostra bezahlen. Ermes Riccobono ist kultureller Mediator dieses Vereins. Während eines Besuchs in Bern erzählte er, wie der Widerstand gegen die Mafia entstanden ist.
Jahrzehntelang war es ein Tabu, über den «Pizzo» zu sprechen. Das Wort steht für Schutzgeld, das an Mafiaorganisationen bezahlt werden muss. Doch einige sizilianische Geschäftsleute haben sich entschlossen, die Mauer des Schweigens zu durchbrechen und gegen die Mafia aufzustehen.
Dass immer mehr Menschen bereit sind, über dieses kriminelle System zu sprechen, verdankt sich unter anderem einer Gruppe junger Menschen, die Sizilien verändern wollen. Beispielsweise Ermes Riccobono aus Capaci. Er ist Mitglied der Bewegung «Addiopizzo»Externer Link. Für ihn ist der Kampf gegen die Mafia vor allem «eine moralischen Pflicht.»
swissinfo.ch: Um was handelt es sich genau beim «Pizzo» und wer bezahlt diesen?
Ermes Riccobono: Beim «Pizzo» handelt es sich in der Regel um Schutzgelder, die erpresst werden. Die Mafia fordert von Geschäftsleuten eine gewisse finanzielle Abgabe. Nur wer diese bezahlt, kann überhaupt wirtschaftlich aktiv sein. Ganz abgesehen von dieser wirtschaftlichen Komponente stellt der «Pizzo» auch eine Form der sozialen Kontrolle über ein bestimmtes Gebiet dar. Es ist ein Machtsymbol.
Schutzgeld für mehr als eine Milliarde Euro
Die Summe aller bezahlten Schutzgelder erreicht in Sizilien mehr als eine Milliarde Euro pro Jahr. Zu diesem Schluss kommt eine 2008 publizierte Studie der Stiftung Rocco Chinnici. Die Stiftung ist nach einem von der Mafia getöteten Magistraten benannt.
Die Schutzgeld-Forderung reicht demnach von einem Minimum von 32 Euro pro Monat (für einen Tabakladen) bis zu 27’200 Euro (für einen Supermarkt). Auf Sizilien sind gemäss der Webseite der parlamentarischen Anti-Mafia-KommissionExterner Link rund 50’000 Geschäftsleute betroffen. Das entspricht 70 Prozent aller Geschäftsleute.
Im sizilianischen Dialekt heisst «u pizzu»: Schnabel eines Vogels. Diese Metapher bedeutet, dass der Vogel mit seinem riesigen Schnabel seinen Durst nur löschen kann, wenn er an verschiedenen Stellen trinkt. Die Mafia verlangt das Schutzgeld also bei vielen Geschäftsleuten und Gastronomen.
swissinfo.ch: Was bedeutet es für Geschäftsleute, Schutzgeld bezahlen zu müssen?
E.R.: Wenn jemand ein Restaurant oder einen Laden eröffnet, kommt mit Sicherheit ein Mafioso vorbei. Dieser wird niemals sagen: «Du musst jetzt Schutzgeld bezahlen». Er wird ganz schlicht sagen: «Du muss die Regeln einhalten.» Dann wird der Betrag festgelegt und die Häufigkeit der Zahlungen. Der Betrag wird auf Grundlage der Kundenzahl, des Umsatzes und der Lage eines Geschäfts festgelegt. Der Betrag kann von 50 Euro pro Monat für einen Strassenhändler bis zu 1000 bis 2000 Euro für einen Juwelier reichen. Bis ins Jahr 2004 war die Praxis des Schutzgeldes praktisch bis in die hintersten Winkel des Landes verbreitet. Gemäss Schätzungen bezahlten in Palermo 80 Prozent Geschäftsleute den Pizzo.
Schweizer Touristen in Italien
Im Jahr 2014 unternahmen gemäss dem Bundesamt für Statistik in der Schweiz wohnhafte Personen rund 22,2 Mio. Reisen (mit mindestens einer auswärtigen Übernachtung). Neun Prozent dieser Reisen hatte Italien zum Ziel.
Die Schweiz stellt für Italien den fünfwichtigsten Quellenmarkt im Tourismus dar. Bei ihren Aufenthalten in Italien geben die Schweizer pro Tag rund 140 Euro (150 Franken) aus. Dieser Betrag beruht auf Schätzungen der Agentur Visit Italy.
swissinfo.ch: Was geschah dann 2004?
E.R.: Sieben Freunde, junge Menschen, wollten in Palermo eine Bar eröffnen. Da sie sich in der Geschäftswelt nicht auskannten, baten Sie einen Bekannten um Hilfe bei der Erstellung eines Businessplans. Als sie diesen lasen, stand in der Rubrik Ausgaben auch der Begriff «Pizzo». So merkten sie, dass das Schutzgeld als eine Art Steuer angesehen wurde, als etwas ganz Normales.
Sie wollten das aber nicht akzeptieren und reagierten. Im Sommer 2004 erfanden sie den Slogan «Ein Volk, das Schutzgeld bezahlt, ist ein Volk ohne Würde». Dieser Slogan wurde auf Aufkleber gedruckt. Und ganz Palermo war plötzlich übersät mit diesen Aufklebern. Für die Stadt war es ein Schock.
swissinfo.ch: Warum ein Schock?
E.R.: Weil das Wort Pizzo in Sizilien ein Tabu war. Das System des Schutzgeldes war geschützt durch eine Mauer des Schweigens. Der Unternehmer Libero Grassi war die letzte Persönlichkeit, die 1991 vom Pizzo sprach. Er wurde von der Mafia ermordet. Grassi war allein gelassen worden. Er hatte keine Unterstützung durch die Institutionen oder die Gesellschaft erfahren. Die Gründung der Bewegung «Addiopizzzo» (Adieu pizzo!) verfolgte das Ziel, dass niemand das Gefühl haben soll, allein gegen die Mafia zu kämpfen.
swissinfo.ch: Wie soll das gehen?
E.R.: Im Grundsatz geht es um eine breite Unterstützung der Geschäftsleute. Zuerst haben wir ein Netzwerk von Konsumenten geschaffen, die bereit waren, Geschäftsleute zu unterstützen, die das System der Schutzgelder anprangern. Dann haben wir die Geschäftsleute gesucht, die diesem «Netzwerk ohne Schutzgeld» (pizzo-free) beitreten wollten.
Unser Ziel war es, die Leute wachzurütteln und einen sauberen Wirtschaftskreislauf zu bilden. Darüber hinaus wollten wir aufzeigen, dass das Schutzgeld nicht einfach ein Problem zwischen der Mafia und Geschäftsleuten ist, sondern die ganze Gesellschaft betrifft.
Viele Leute fragten uns, was sie als Touristen machen könnten. Und so entstand 2009 Addiopizzo TravelExterner Link. Wir vermitteln Hotels und Restaurants, die keine Schutzgelder zahlen, also «pizzo-free» sind. Es ist eine Möglichkeit, ein anderes Sizilien zu zeigen. Ein Sizilien, das über die Klischees des Films «Der Pate» hinaus reicht. Dann ist das Projekt weiter gewachsen. Wir begannen beispielsweise, mit Schulen zu arbeiten. Wir wollen auch den Jüngsten schon klar machen, dass man aktiv etwas gegen die Mafia machen kann.
swissinfo.ch: Wie haben Unternehmer und Geschäftsleute reagiert?
E.R.: Wir begannen mit 300 Gastwirten, inzwischen sind es über 1000. Früher erkundigten sich diese, bevor sie ein Business starteten, wem sie das Schutzgeld zahlen mussten. Heute passiert das genaue Gegenteil: Sie kommen zu uns und verlangen den Label «pizzo-free», damit sie damit gegenüber ihren Kunden Werbung machen können. Das ist schon fast eine Kulturrevolution.
Ausserhalb von Palermo, auf dem Land, ist die Lage etwas komplizierter. Dort war die Mafia immer stärker und ist bis heute stark verankert. Es ist nicht ganz einfach, dort gegen Schutzgelder vorzugehen. In Capaci, meinem Heimatort, leben 11’000 Menschen. Doch nur zwei haben sich Addiopizzo angeschlossen.
swissinfo.ch: Was bedeutet es, sich gegen die Mafia aufzulehnen?
E.R.: Lange bedeutete es, allein zu sein. Menschen, die sich ihr widersetzten, wurden erpresst oder riskierten gar den Tod. Aus Angst bezahlten alle die Schutzgelder. Heute sind die Geschäftsleute, die gegen die Mafia sind, Teil einer Gruppe. Das ist ein grosser Unterschied. Soweit wir wissen, war kein Mitglied von Addiopizzo je Retorsionsmassnahmen ausgesetzt. Aus abgehörten Telefonaten weiss man sogar, dass die Mafiosoi diese Leute am liebsten in Ruhe lassen, um nicht angezeigt zu werden. Auf alle Fälle wissen die Mafiosi, dass sie bei diesen das Schutzgeld kaum mehr durchsetzen können.
Mafia-Infiltration der Schweiz
Die Kraken der Mafia reichen mittlerweile auch in die Schweiz. Dies gilt insbesondere für die kalabrische ‹Ndrangheta. Die Bundespolizei schreibt in ihrem jüngsten Bericht, «dass alle grossen Mafia-Organisationen Italiens Verbindungen zur Schweiz aufweisen».
Die Bundesanwaltschaft hat laut fedpol im Jahr 2014 Gelder der Mafia «in Höhe von mehreren Millionen Franken beschlagnahmt».
Im Rahmen der Operation «Helvetia» publizierten die italienischen Behörden im Sommer 2014 die Videoaufzeichnung eines Treffens einer ‹Ndrangheta-Zelle in Frauenfeld (Ostschweiz). Zwei italienische Staatsbürger, die diesem Schweizer Mafia-Ableger angehörten, wurden im Oktober 2015 von einem Gericht in Reggio Calabria (Kalabrien) zu 12 beziehungsweise 14 Jahren Gefängnis verurteilt.
swissinfo.ch: Wie können Sie sicher sein, dass Ihre Mitglieder sich wirklich an die Regeln halten und keine Schutzgelder mehr zahlen?
E.R.: Unsere Arbeit wird von den Behörden und von der Polizei unterstützt. Sobald jemand unserem Verein beigetreten ist, übermitteln wir die Informationen der Quästur, die ihrerseits sicherstellt, dass diese Personen keine Verbindungen zur Mafia haben. Natürlich müssen wir uns auf diese Kontrollen verlassen können. In einigen Fällen wurden wir informiert, dass gegen bestimmte Geschäftsleute Ermittlungen wegen Mafia-Verbindungen liefen. Diese wurden dann sofort aus dem Netzwerk ausgeschlossen.
swissinfo.ch: Aus welchem Grund sollte die Mafia, eine er historisch einflussreichsten kriminellen Organisationen der Welt, wegen einer kleinen Gruppe von jungen Menschen zurückbuchstabieren?
E.R.: In den letzten Jahren hat sich die Situation verändert. Einige Mafia-Bosse, darunter beispielsweise Bernardo Provenzano, wurden verhaftet. Die Mafia hat sich selbst gewandelt, aber auch ihre Art vorzugehen. Früher waren die soziale Kontrolle und das Schutzgeld sehr wichtig; mittlerweile geht es mehr um Ausschreibungen, Politik und internationale Geschäfte.
Ich denke zudem, dass die Mafia unsere Arbeit unterschätzt hat. In Sizilien gab es immer mal wieder sporadische Initiativen junger Menschen gegen die Mafia. Doch meistens waren diese Aktionen nach einigen Jahren vorbei, ohne reale Konsequenzen zu zeitigen. Die Bewegung Addiopizzo existiert mittlerweile seit gut 10 Jahren. Wir versuchen, eine Kultur der Legalität aufzubauen, auch mit kulturellen Initiativen, mit Musik und Kunst. In diesen Bereichen ist die Mafia nicht sehr präsent. Wir haben die Mafia in einem Kontext angegriffen, in dem sie nicht viel zu sagen hat.
swissinfo.ch: Welches Verhältnis haben Sie persönlich zur Mafia?
E.R. Wie viele andere Kollegen in unserer Bewegung gehöre ich zur Generation ’92, welche durch die Attentate von Capaci und Via d’Amelio geprägt wurde. Damals wurden die Richter Giovanni Falcone und Paolo Borsellino ermordet. Wir sind mit der Mafia gross geworden. Ich war sechs Jahre alt, als Falcone ermordet wurde. Ich erinnere mich, dass wir den Knall der Bombe zu Hause hörten. Das war rund zwei Kilometer vom Ort des Anschlags entfernt. Für uns ist der Kampf gegen die Mafia vor allem eine moralische Pflicht.
swissinfo.ch: Braucht es Mut, um sich der Mafia entgegen zu stellen?
E.R.: Es braucht nicht unbedingt Mut, aber vor allem den Willen, Nein zum Schutzgeld zu sagen. Wir haben von den Behörden erfahren, dass sie beim Abhören von Telefonaten einmal erfahren haben, wie ein Mafioso von der Notwendigkeit sprach, dem Verein «Addiopizzo» mit «Scherzen» beizukommen. Aber was soll das heissen? Tatsache ist, dass nie etwas passiert ist. Ich meine: Heute kann man sich gegen Schutzgeld und gegen die Mafia auflehnen, ohne Risiken einzugehen.
swissinfo.ch: Anfang November nahmen Sie an Kulturtreffen in Bern und Zürich teil. Warum ausgerechnet in der Schweiz?
E.R.: Die Zahl der Touristen aus der Schweiz, die Sizilien besuchen, ist in den letzten beiden Jahren angestiegen. Darum wollte ich aufzeigen, wie man unser Land auf andere Weise besuchen kann. Aber ganz abgesehen von der Promotion unserer Aktivitäten als Tour-Operator wollte ich meine Ansichten zur Mafia auch in der Schweiz präsentieren, einem Land, das nicht immun ist gegen die Infiltration durch das Organisierte Verbrechen. Wie sagte doch Paolo Borsellino? «Es ist wichtig, über die Mafia zu sprechen.»
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
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