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«Grosse Seestrasse»: grosse Schweizer Schenkung, grosse Hindernisse

Vier Personen um das Bild Grosse Seestrasse das auf einer Staffelei steht
"Grosse Seestrasse" oder Schenken macht Freude: Stifterin Christine Schraner-Burgener, damalige Schweizer Botschafterin in Berlin, Martin Faass und Hans Gerhard Hannesen (Liebermann Villa und Liebermann Gesellschaft) sowie Viktor Vavricka (Geschäftsträger i.A. der Schweizerischen Botschaft, von links). Liebermann Villa


Es ist eine Geschichte mit Hindernissen und Happy End: Die Eidgenossenschaft schenkt der Liebermann-Villa in Berlin das Gemälde «Grosse Seestrasse». Doch zuvor musste erst einmal die Eigentumsfrage endgültig geklärt werden.

Martin Faass konnte sein Glück kaum fassen: Als der Direktor der Berliner Liebermann-VillaExterner Link im Januar 2018 von der damaligen Schweizer Botschafterin Christine Schraner Burgener in ihre Residenz eingeladen wurde, dachte er, es ginge um eine anstehende Ausstellung in seinem Haus: Im Sommer würde die Villa am Wannsee Bilder von Max Liebermann und Paul Klee zeigen. Wegen der biographischen Schweiz-Bezüge Klees hatte die eidgenössische Botschaft Martin Faass in dieser Sache ihre Unterstützung zugesagt.

Christine Schraner Burgener wollte als amtierende Botschafterin die Schirmherrschaft übernehmen. Es gab also einiges zu besprechen. «Doch dann eröffnete sie mir die grossartige und völlig unerwartete Nachricht, dass die Schweiz uns ein Liebermann-Gemälde schenken wolle», erinnert sich Martin Faass. 

Was beide zu dem Zeitpunkt noch nicht wissen: Es wird eine Schenkung mit Hindernissen, denn das Bild hat eine komplizierte Vorgeschichte.

Max Liebermanns «Grosse Seestrasse» hing bereits seit 1948 in den Räumen der Schweizer Vertretung in Berlin, doch es hatte nicht ihr gehört. Vielmehr stammt es aus dem Privatbesitz des Schweizer Diplomaten François de Diesbach, der in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg in dem Gebäude als Chef der sogenannten «Heimschaffungsdelegation» wirkte und wohnte. Liebermanns Werk schmückte seine Privaträume.

Das Museum Villa Liebermann in Berlin mit Garten
Das Museum Villa Liebermann in Berlin. Arco Images / DPA / Keystone

Aus dem Privatbesitz eines Diplomaten

Der kunstsinnige de Diesbach, der aus einer alten Berner Adelsfamilie stammte, hatte das Gemälde im Dezember 1948 rechtmässig in einem Auktionshaus erworben. Der Name des Vorbesitzers, Erich Sauerland, wurde kürzlich bekannt. Wie dieser in den Besitz des Bildes kam und warum er es verkaufte, lässt sich nicht mehr rekonstruieren.

Während des Krieges beschlagnahmten die Nationalsozialisten zahlreiche Kunstwerke oder zwangen deren jüdische Eigentümer, sie weit unter Wert zu verkaufen. Liebermann-Gemälde erzielen heute auf dem Kunstmarkt hohe Preise: 2015 erzielte eines seiner Werke auf einer Auktion den Rekordpreis von 2,6 Millionen Euro, 2006 zahlte ein Käufer für ein anderes Liebermann-Gemälde 1,9 Millionen Euro.

Max Liebermann

Der deutsch-jüdische Maler Max Liebermann (1847-1935) zählt zu den bekanntesten Künstlern des Impressionismus und gilt als einer der Wegbereiter der Moderne Der Sohn einer vermögenden Berliner Familie wuchs in direkter Nachbarschaft des Brandenburger Tors auf und feierte in den 1880er-Jahren seine ersten grossen Erfolge als Maler.

Wichtige Einflüsse hatten seine Jahre in Frankreich und Holland, bevor er in seine Geburtsstadt Berlin zurückkehrte. Von 1920–1932 war Max Liebermann dort Präsident der Preussischen Akademie der Künste. 1927 wurde er zum Ehrenbürger Berlins ernannt. 1935 starb er mit 87 Jahren in Berlin.

Die Familie Liebermann wurde nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 systematisch schikaniert und ausgeraubt. Die Liebermann-Tochter Käthe konnte sich im November 1938, unmittelbar nach der Reichskristallnacht, mit ihrer Familie in die USA retten. Die Künstler-Witwe Martha Liebermann blieb in Berlin. Sie nahm sich 1943 mit 86 Jahren das Leben, um nicht in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert zu werden.

Quelle: Liebermann-Villa u. a..

François de Diesbach verunglückte 1949 tödlich, seine Witwe ist verstorben, direkte Nachkommen gibt es nicht. So blieb das Bild im Botschaftsgebäude hängen. Immerhin hatte formelle Provenienzüberprüfung durch eine Expertin keine Hinweise auf Raubkunst ergeben.

Seit 1997 sucht das EDA die Erben

François Wisard, Leiter des Historischen Dienstes des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) betont, dass das EDA bereits seit 1997 auf der Suche nach potentiellen Erben war. Zwei entfernte Verwandte, die schliesslich Anspruch auf das Bild anmeldeten, konnten jedoch nie beweisen, dass sie zusammen die ganze Erbengemeinschaft bildeten. «Es war dem EDA daher nicht möglich, es einem Besitzer zuzuschreiben», sagt François Wisard.

Lange Zeit geschah in der Sache nichts. Einer der mutmasslichen Erben wurde erst wieder aktiv, als das EDA Anfang 2018 auf Empfehlung von Christine Schraner Burgener ankündigte, das Bild der Berliner Liebermann-Villa zu schenken. 

Zuvor war ein von ihr initiiertes Rechtsgutachten zu dem Ergebnis gekommen, dass sich die Eidgenossenschaft nach 70 Jahren das Gemälde nach deutschem wie auch nach schweizerischem Recht «ersessen» hat und somit zur Eigentümerin geworden war. 

Doch der mutmassliche Erbe stoppte die Schenkung an die Liebermann-Villa im Juni 2018 in letzter Minute durch ein Gesuch beim Berner Obergericht, sagt François Wisard. Im Sommer bestätigte das Obergericht dann das Rechtsgutachten und wies die angemeldeten Ansprüche zurück. «Jetzt steht der Schenkung nichts mehr im Weg», so Wisard. Mit einer Einschränkung: Sollte sich künftig wider besseres Wissen herausstellen, dass es sich doch um Raubkunst handelt, muss die Liebermann-Villa das Bild den enteigneten Besitzern zurückgeben.

«Es hat den richtigen Platz gefunden»

Die Schenkung an die Liebermann-Villa kam auf Anregung von Christine Schraner Burgener zustande. Sie kannte das Museum im ehemaligen Wohnsitz des Künstlers aus früheren Besuchen und hielt es für den richtigen Ort. 

«Ich habe mich drei Jahre lang im Büro in Berlin am Anblick des Bildes erfreut, aber es hat mich ständig an das Schicksal vieler Künstler während der Nazi-Herrschaft erinnert«, schreibt sie, mittlerweile UNO-Sonderbeauftragte für Myanmar, aus Bangladesch: «Ich bin froh, dass das Bild keinen Hinweis auf Raubkunst ergeben hat und nun dort hängt, wo es vermutlich entstanden ist und nun vielen Besuchern des Museums zugänglich gemacht werden kann; es hat meines Erachtens den richtigen Platz gefunden.»

So kehrt die «Grosse Seestrasse» an seinen Ursprungsort, das Wohnhaus des jüdischen Malers, zurück. In Liebermanns prächtiger Villa mit dem grossen, sich zum See erstreckenden Garten entstanden mehr als 200 seiner Gemälde, Pastelle und Grafiken.

Aufwertung der Sammlung

Seit 2006 sind Gebäude und der originalgetreu restaurierte Garten ein MuseumExterner Link. «Grosse Seestrasse» gehört zu einer kleinen Gruppe von Bildern, auf denen nicht der berühmte Garten, sondern die an diesen angrenzende Allee zu sehen ist. «Sie war ein wichtiges Motiv für Liebermann und seine Familie», sagt Martin Faass, aus persönlicher und künstlerischer Perspektive gleichermassen: «Ihn hat die Alleesituation seit seiner holländischen Zeit sehr interessiert.»

Faass betrachtet die Rückkehr des Gemäldes in Liebermanns Villa als ungeheuren Glücksfall.  Die «Grosse Seestrasse» ist erst das fünfte Liebermann-Gemälde im Eigenbesitz des Freundeskreises der Max Liebermann Gesellschaft, die die Villa unterhält und das Museum betreibt. «Das Bild ist eine ganz substantielle und wichtige Ergänzung unserer eigenen Sammlung», freut sich Martin Faass.

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