«Man darf jetzt nicht die ganze Jugend kriminalisieren»
Seit dem 8. März stehen drei Schüler der Zürcher Gemeinde Küsnacht vor Gericht, die im Sommer 2009 in München fünf Personen brutal attackiert hatten. Küsnachts Schulpräsident Max Heberlein blickt auf schwierige Monate zurück. Den Glauben an die Jugend hat er dennoch nicht verloren.
swissinfo.ch: Welche Folgen hatte die Gewalttat von München für Ihre Schule, die Lehrerschaft und die Schülerinnen und Schüler?
Max Heberlein: Zunächst einmal mussten wir nachdenken und uns Rechenschaft ablegen, ob und was falsch gelaufen ist von unserer Seite.
Klassenfahrten ins Ausland wurden vorläufig gestrichen. Das ist schade, denn an solche Klassen-Wochen erinnert man sich ein Leben lang. Sie geben Zusammenhalt und sind, wenn wir von Reisen in Grossstädte reden, ein Kulturerlebnis.
swissinfo.ch: Ist denn von Ihrer Seite her etwas falsch gelaufen? Darf man 16-Jährige unbeaufsichtigt bis Mitternacht in den «Ausgang» lassen?
M.H.: Das sollte unter normalen Bedingungen möglich sein. Ich denke an Gymnasiasten, die auf der Matur-Reise sind, oder an meine eigenen Kinder. Wir haben ja Erfahrung: Über viele Jahre haben wir solche Schulverlegungen in europäischen Städten durchgeführt.
Es ist nicht so, dass nie etwas vorgefallen wäre. Es hat schon mal Unfälle gegeben, aber in einem Rahmen, an den wir gewöhnt sind. So mussten wir vor zwei Jahren einen Jugendlichen nach Hause schicken, weil er zu viel getrunken hatte.
Ich will das nicht schönreden, aber man muss von 16- und 17-jährigen Jugendlichen erwarten dürfen, dass sie sich anständig aufführen.
Zudem müssen Schüler und ihre Eltern einen Vertrag unterschreiben. Die Eltern müssen darin bestätigen, dass sie ihrem Sohn oder ihrer Tochter das korrekte Verhalten auf dieser Ausland-Reise zutrauen.
swissinfo.ch: Im Fall der drei Schüler, die in München vor Gericht stehen, wussten die Eltern aber, dass ihre Söhne vorbestraft sind…
M.H.: Ja. Das ist in der Tat so. Die Eltern wussten das, wir wussten es eben nicht. Man muss aber etwas genauer hinschauen: Der eine hatte auch schon zugeschlagen und war wegen Tätlichkeit oder Körperverletzung vorbestraft. Ein Zweiter hatte einen Ladendiebstahl begangen.
Aber trotzdem kann man doch nicht davon ausgehen, dass sie zu solchen Taten fähig sind. Es ist ganz schlimm, was passiert ist, aber wir dürfen jetzt nicht die ganze Jugend kriminalisieren. Überwiegend sind es gute und anständige Jugendliche.
swissinfo.ch: Dann hat dieser Gewaltakt ihren Glauben in die Jugend nicht grundsätzlich erschüttert?
M.H.: Nein. Die Tat selber aber schon. Natürlich kann man jetzt darüber philosophieren und sich immer wieder fragen, warum so etwas möglich ist. Eine konkrete Antwort finde ich nicht.
Ich überlasse es den Psychologen und Soziologen, zu sagen, was die Ursache ist. Aber irgendetwas muss in unserer Gesellschaft schon sein, was bei Einzelnen eine derartige Brutalität zulässt.
swissinfo.ch: Gewaltfilme, Killergames am Computer…?
M.H.: Vielleicht. Aber wie gesagt, das sind Vermutungen, und ich als Schulpräsident möchte eigentlich keine solchen anstellen.
swissinfo.ch: Ihre Schule führt seit Jahren Gewaltpräventions-Programme durch. Wurden die jetzt angepasst?
M.H.: Wir geben uns grosse Mühe bei der Gewaltprävention, die bereits im Kindergarten beginnt. Auch dort kann ein Kind im Sandkasten dem anderen mal eine Schaufel über den Kopf hauen. Unsere Lehrpersonen sind auch in diesen sozialen Bereichen geschult.
Wir haben nach München festgestellt, dass wir in den letzten Jahren das Richtige gemacht haben. Wir haben aber das Angebot, an denen externe Fachleute mit den Schulklassen arbeiten, von zwei auf vier Halbtage pro Jahr und Klasse verdoppelt.
swissinfo.ch: Arbeiten die Psychologen mit der ganzen Klasse oder nur mit auffälligen Jugendlichen?
M.H.: Wir machen das flächendeckend. Die drei Schüler, die sich in München verantworten müssen, sind den Lehrern vorher nicht besonders aufgefallen. Der eine kam zwar häufig zu spät zur Schule oder hatte die Aufgaben nicht gemacht. Die beiden anderen galten als freundlich und haben gut mitgearbeitet.
Wenn wir jetzt auslesen und sagen, der oder die ist besonders auffällig, dann ist es vielleicht ein Treffer oder auch nicht, und andere, die es nötig hätten, kämen dann nicht in den Genuss dieses Präventions-Angebots.
swissinfo.ch: Haben Sie ab und zu schwierige und gewaltbereite Jugendliche?
M.H.: Ja, das gibt’s. Schwierige ohnehin. Gewaltbereite in einem sehr kleinen Ausmass. Was für ein Grad an Gewalt da im Spiel ist, ist schwierig herauszufinden, denn in der Regel entlädt sich die Gewalt nicht wirklich. Man kann vielleicht in einem Gespräch erahnen, dass da eine Gewaltbereitschaft besteht, aber sicher weiss man das nicht.
swissinfo.ch: Wie kann man Zivilcourage und Konfliktfähigkeit bei Jugendlichen fördern?
M.H.: Das wird bei uns immer wieder thematisiert und geübt. Natürlich ermutigen wir auch immer, selber nicht mitzumachen und den anderen zu sagen, dass das nicht cool sei und dass mitmachen, nur weil man nicht Aussenseiter sein will, total falsch sei.
Offenbar kann sich aber schon eine Dreiergruppe gestärkt fühlen und sich zu solchen Taten hinreissen lassen. Da nützt es wahrscheinlich nicht mehr so viel, wenn ein Mädchen sagt, «geht’s noch?»
Es stellt sich auch immer wieder die Frage, wie weit man gehen soll, wenn man einschreitet, um dem üblen Treiben von Randalierern Einhalt zu gebieten. Es braucht viel Fingerspitzengefühl, damit es nicht zu gefährlich wird und man selber dran kommt.
swissinfo.ch: Haben Sie als Schulpräsident und die Lehrerschaft sich nach dieser Tat Vorwürfe gemacht?
M.H.: Da muss ich jetzt für mich sprechen. Der Schulpräsident macht sich vermutlich immer Vorwürfe. ‹Habe ich etwas ausser Acht gelassen, hätte ich irgendwo etwas merken oder andere Anweisungen geben müssen.›
Insgesamt bin ich aber der Meinung, dass wir bis jetzt einen einigermassen guten Weg gegangen sind. Ich bin mir auch im Klaren, dass letztlich nicht alle Gefahren ausgeschlossen werden können – mit Menschen ohnehin nicht und mit sehr vielem anderen auch nicht im Leben.
swissinfo.ch: Wird der Münchner Vorfall dazu führen, dass die Strafuntersuchungsbehörden in Zukunft Straftaten der Jugendlichen an die Schule melden werden?
M.H.: Eine kantonale Arbeitsgruppe, der ich angehöre, untersucht zur Zeit, unter welchen Umständen Informationen von der Jugendanwaltschaft an die Schulen fliessen sollten.
Bis jetzt hat man sich aus Datenschutzgründen sehr zurückgehalten. Das hat dazu geführt, dass wir nichts wussten von strafrechtlichen Vortaten. Man hätte vielleicht, wenn man es gewusst hätte, die drei noch besser kontrolliert und vielleicht nicht nach München mitgenommen.
swissinfo.ch: Tun Ihnen die Eltern der drei Schüler leid?
M.H.: Ja, natürlich. Ich meine, die kennen ihre Kinder auch nur im Umfeld von zu Hause. Wie sie dann in einer Gruppe auswärts sind, kann man als Eltern nicht wissen, vielleicht erahnen. Es gibt Jugendliche, die zu Hause überhaupt nichts erzählen.
Gaby Ochsenbein, Küsnacht, swissinfo.ch
In der Nacht vom 30. Juni auf den 1. Juli 2009 sollen die drei 16-jährigen Schüler der Weiterbildungs- und Berufswahlschule Küsnacht /WBK) auf einer Klassenreise in München in einem Park drei Arbeitslose verprügelt haben, einer war körperbehindert.
Danach schlugen sie einen Geschäftsmann aus Nordrhein-Westfalen halb tot. Auf dem Weg in ihre Unterkunft griffen sie einen Studenten an.
Die Jugendlichen hatten zuvor Alkohol (weniger als ein Promille) konsumiert und einen Joint geraucht.
Die Verhandlung hat am 8. März 2010 vor der Jugendkammer des Landgerichts München I begonnen.
Gerichtsverhandlung und Urteilsverkündung finden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, da die Angeklagten zur Tatzeit minderjährig waren.
Das Trio ist des versuchten Mordes und der gefährlichen Körperverletzung angeklagt.
Den drei Schülern drohen Freiheitsstrafen bis zu zehn Jahren.
Das Urteil wird für den 7. April erwartet.
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