«Manchmal wacht der Dämon wieder auf»
In der Schweiz haben rund 120‘000 Personen Suchtprobleme im Zusammenhang mit Glücksspielen. Julia* ist eine davon. Sie hat den langen Kampf gegen ihre Sucht aufgenommen und taucht langsam wieder aus dem "schwarzen Loch" auf.
Es war fast wie bei harten Drogen: Es dauerte nur rund einen Monat, bis Julia (*Name von Redaktion geändert) spielsüchtig war.
Sie ist zwischen 40 und 50 Jahre alt, Mutter von vier Kindern, verfügt über einen Universitätsabschluss und eine gute Arbeitsstelle. Nichts in ihrem Leben liess je darauf schliessen, dass sie dem Glücksspiel erliegen könnte.
Alles begann im Dezember vor drei Jahren. «Zusammen mit einigen Kolleginnen schlossen wir einige Online-Wetten über Fussballspiele ab. Ich hatte via Internet 20 Franken auf ein Konto eingezahlt. Eines Tages schaute ich den Kontostand an. Da waren es rund 30 Franken. Auf der Webseite hatten sie ein Online-Casino mitsamt Roulette hinzugefügt. Da dachte ich: Das kann ich doch mal versuchen. Ich begann zu spielen und gewann. Am Anfang gewinnt man nämlich immer….», sagt Julia mit einem bitteren Lächeln.
Das schnelle Geld
Da sie damals finanziell Probleme hatte, erschien ihr das Online-Spiel als beste Möglichkeit, etwas Geld zu verdienen. Doch aus dem Traum wurde schnell ein Albtraum. Aber anders als Personen, die oft Jahre brauchen, um ihre Situation zu erkennen, bemerkte Julia sehr schnell, dass mit ihr etwas nicht mehr stimmte.
Nach eineinhalb Monaten Online-Glücksspiel und einigen Tausend Franken Verlust spricht sie zuerst mit ihrem Ehemann. Sie verheimlicht ihm allerdings, wie viel Geld sie genau verloren hat. Dann kontaktiert sie eine Suchtberatungsstelle. «Ich konnte einen Termin vereinbaren, der aber erst drei Monate später war», erzählt Julia. In der Zwischenzeit wird das finanzielle Loch immer grösser. Und die Beratung erweist sich schliesslich als totaler Flop.
«Ich war mit meinem Problem ganz auf mich alleine gestellt. Und sobald du im Netz der Online-Casinos hängst, lassen sie dich nicht mehr los. Du erhältst ständig E-Mails, Boni, als ob sie dir sagen wollten: Vergiss Deinen Dämon nicht.»
Von realem und virtuellem Geld
Julia interessiert sich nicht für reale Casinos. «Ich bin einmal in einer Spielbank gewesen; das ist nichts für mich. Ich mag die visuelle Seite des Online-Spiels. Es gibt eine gewisse Magie, rein grafisch, auch wenn diese Spiele dümmlich sind, vor allem die Slot-Maschinen.»
Ein weiterer, nicht zu unterschätzender Aspekt des Online-Spiels ist die Tatsache, dass die Spieler nie den Eindruck haben, um echtes Geld zu spielen. «Alles ist virtuell. Deshalb erscheint es so, als ob man nicht wirklich Geld verliert. Das ändert sich, wenn am Ende des Monats die Kreditkartenabrechnung ins Haus flattert.»
Dazu kommt: «Geld bei diesen Online-Spielen einzubezahlen, ist kinderleicht. Um Geld abzuziehen, braucht es Geduld und Zeit – zwischen zwei und fünf Tagen. Und was macht man solange? Man spielt.»
Immer tiefer in der Abwärtsspirale
«Besonders an Feiertagen war es schrecklich. Ich verbrachte meine ganze Zeit am Computer. Bei der Arbeit habe ich nie gespielt. Aber ich nahm frei oder meldete mich krank, um zu Hause zu spielen. Ich fehlte viel häufiger am Arbeitsplatz als heute. Ich habe niemals Geld gestohlen, aber ich entwickelte eine gewisse Kreativität, um Geld von Konten abzuheben», erzählt Julia.
Spielbanken sind für Spielsüchtige das gleiche wie ein Schnapsladen für Alkoholsüchtige. «Beim Online-Casino ist es sogar so, wie wenn ein Alkoholiker direkt über dem Schnapsladen leben würde. Du musst dir nur die Pantoffeln anziehen und los gehts.»
Bei Julia drehte sich die Spirale immer weiter nach unten. Depression, Selbstmordgedanken und körperliche Probleme waren die Folge. «Ich ass nicht mehr, ich schlief nicht mehr. Immer dachte ich daran, wie ich gewinnen könnte», erinnert sie sich.
Ihr Denken wurde von Zahlen und Mondphasen beherrscht. «Wenn ich auf dem Heimweg von der Arbeit eine bestimmte Zahl sah, dachte ich, dass es ein Zeichen war, um diese Zahl im Roulette zu spielen.»
Erst ein Jahr nach dem Beginn dieser Negativentwicklung vereinbarte Julia einen Termin bei einem Psychiater, der auf Suchtprobleme spezialisiert war. «Er erklärte mir, dass Suchtverhalten in demjenigen Teil unseres Gehirns verankert ist, der unsere elementaren Bedürfnisse wie Essen und Schlafen steuert.» Daher sei es so schwierig, sich von einer Sucht zu befreien. «In diesem Moment habe ich verstanden, wie tief ich gefallen war.»
Tiefsitzendes Schamgefühl
Dank der Therapiesitzungen beim Psychiater sowie der Hilfe durch den Ehemann, der ihr stets zur Seite stand, findet Julia langsam aus dem dunklen Loch heraus. «Seit mir der Psychiater zur Seite steht, verspiele ich statt 900 nur noch 150 Franken im Monat. Am Ende des Jahres soll kein Franken mehr ins Glücksspiel fliessen.»
Doch der innere Dämon erwacht hin und wieder. «Anfang Jahr setzte ich 25 Euro und gewann 10‘000 Euro. Dann habe ich wieder alles verloren. Ich wollte mehr, denn meine Schulden waren noch höher. Wenn ich ein paar Tage nicht spiele, steigt mein Adrenalin wieder an. Ich habe dann Abstinenz-Erscheinungen, denn ich brauche das Adrenalin des Spiels», erzählt sie.
Sie habe damit begonnen, Sport zu treiben und Musik zu machen. Doch all diese Aktivitäten könnten ihr bisher keine endgültige innere Ruhe bringen.
Im Gespräch verwendet Julia immer wieder das Wort «Scham»: Sie schämt sich für all das Geld, das sie verloren hat und für Besseres hätte verwenden können. Sie schämt sich vor ihren Kindern, denen sie immer noch nicht gesagt hat, wie viel Geld sie wirklich verloren hat. Sie schämt sich gegenüber all den Armen, die sie bei einer Reise in ein südliches Land kennengelernt hat.
Julia hat damit begonnen, ihre Erfahrungen zu notieren. Vielleicht wird sie ein Buch schreiben. Mit ihrer Bereitschaft, mit einem Journalisten zu sprechen, will sie anderen Personen helfen, «aus dem Schatten zu treten».
Denn sie ist überzeugt, dass es sich bei der Spielsucht um ein gesellschaftliches Problem handelt, das zunimmt. «Gerade junge Leute sprechen häufig von Poker-Online und anderen Spielen. Ich möchte, dass meine Erfahrung anderen etwas nützt, um auszusteigen.»
Gemäss einer Studie aus dem Jahr 2007 haben in der Schweiz rund 120‘000 Personen Probleme mit ihrer Abhängigkeit von Glücksspielen.
35‘000 Personen können als süchtig bezeichnet werden beziehungsweise als pathologische Spieler.
Von 14‘393 Personen, die im Rahmen dieser Umfrage befragt wurden, gaben 41,9% an, in den letzten 12 Monaten gespielt zu haben. Nur 2% der Befragten wies ein problematisches Verhalten auf.
Gemäss einer vom Büro für arbeits- und sozialpolitische Studien (BASS) 2009 publizierten Studie liegen die sozialen Kosten des Glücksspiels in Casinos im Vergleich mit anderen Suchtproblemen pro Fall etwa in der Höhe der Tabakabhängigkeit.
Etwas geringer sind die sozialen Kosten für Alkoholabhängige. Tabak- und Alkoholsucht betreffen in der Schweiz aber viel mehr Menschen als Glücksspielsucht, nämlich rund zwei Millionen (Tabak) und 360‘000 (Alkohol).
Die erwähnte Studie schätzt die direkten und indirekten sozialen Kosten für die Glücksspielsucht auf rund 70 Mio. Franken pro Jahr.
Eine Studie des Wirtschaftsforschungsinstituts der Universität Neuenburg vom Juli 2012 kommt auf viel höhere Zahlen, nämlich 545 bis 568 Mio. Franken pro Jahr. Neben den direkten Kosten (Behandlungen, Therapien) werden auch die indirekten Kosten wie Arbeitsausfall von Spielsüchtigen sowie die «humanen Kosten» wie der der Verlust von Lebensqualität der Angehörigen berücksichtigt.
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
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