Margrit Zöbeli: Die Schweizer Pädagogin, die Italien provozierte
Sie war überzeugt, dass nur freie Individuen eine authentisch demokratische Gesellschaft bilden können. 1946 gründete Margrit Zöbeli eine Schule in Rimini. Es war weit mehr als eine Hilfsaktion für die kriegsversehrte Stadt.
Margrit Zöbelis erste Eindrücke von Rimini waren eher abstossend. Sie erinnerte sich 50 Jahre später so daran:
«Der grösste Teil der Bevölkerung lebte in Kellern, in primitiven Unterkünften in den Trümmern oder zusammengepfercht in den wenigen vom Krieg verschonten Gebäuden. Kinder spielten in den Trümmern der zerstörten Häuser, die Armen sammelten Ziegelsteine und die Jugendlichen tanzten den Boogie-Woogie.
Schwarzmarkt, Prostitution und Kriminalität dominierten in einer Stadt, in der es an den grundlegendsten Dingen wie Kleidung, Lebensmitteln und Baumaterialien fehlte.»
Es war 1946, das Jahr, in dem die Zürcherin in Rimini ankam. Im Jahr zuvor stand die italienische Küstenstadt im Zentrum der alliierten Kriegsanstrengungen, das deutsche Verteidigungssystem zu überwinden und in die Poebene vorzudringen.
Hilferuf an die Schweiz
Rimini hatte dafür einen hohen Preis gezahlt: In 11 Monaten war die Stadt fast 400 Mal bombardiert worden, 90% der Gebäude waren beschädigt, ein grosser Teil der Bevölkerung vertrieben.
Arbeiten über das Wirken von Margrit Zöbeli
Viele der Informationen für diesen Artikel stammen aus der Arbeit des Bologneser Historikers Carlo De Maria und insbesondere aus dem Buch «Lavoro di comunità e ricostruzione civile in Italia Margherita Zoebeli and the Italo-Swiss educational centre in Rimini», Rom, Viella, 2015.
Der Bürgermeister Arturo Clari, ein alter Sozialist, wandte sich 1945 an das Schweizerische Arbeiterhilfswerk, um Unterstützung für den Bau einer Unterkunft und Betreuungseinrichtung für kriegsgeschädigte Kinder zu erhalten.
«Wir wollen uns zur Verfügung stellen»
Dieser Ruf ereilte Margrit Zöbeli. Diese war damals bereits seit mehreren Jahren für das Schweizerische Arbeiterhilfswerk (SAH) tätig. 1912 geboren und in einer fortschrittlich gesinnten Familie aufgewachsen, war sie schon früh in der Sozialistischen Jugend aktiv.
In diesen Jahren las sie Autoren des utopischen und libertären Sozialismus des 19. Jahrhunderts, was ihr politisches und intellektuelles Profil nachhaltig prägte.
Nachdem sie beim Arbeiterhilfswerk Kurse in Pädagogik und Psychologie verfolgt hatte, war Zöbeli davon überzeugt, dass die Bildungsarbeit ihre wahre politische Berufung war. Ihren ersten wichtigen Einsatz für das Hilfswerk hatte sie bereits im Januar 1938 in den Pyrenäen, wo sie in einem Heim für Kinder arbeitete, Opfer des spanischen Bürgerkriegs.
Die beste Fachkraft für diesen Job
In den folgenden Jahren schloss sie ihr Pädagogik-Studium in Zürich ab, blieb aber weiterhin in Flüchtlingsinitiativen aktiv. Im Winter 1944 überquerte sie mehrmals die italienisch-schweizerische Grenze, um italienischen Partisanen Hilfe zu bringen. Im Winter 1944/45 arbeitete sie auch als Sozialarbeiterin in der Bergbauregion von Saint-Etienne, Frankreich.
Als die Anfrage aus Rimini die Hilfswerks-Zentrale in Zürich erreichte, gehörte Zöbeli zu den am besten ausgebildeten Mitarbeiter:innen der Organisation. In Frankreich hatte sie erste Erfahrungen in der Wiederaufbauarbeit nach dem Krieg sammeln können.
Ihre Motivation und die anderer junger Schweizerinnen und Schweizer, sich am Wiederaufbau nach dem Krieg in Europa zu beteiligen, fasste sie Jahre später wie folgt zusammen: «Wir haben nicht unter dem Krieg gelitten, reich sind wir nicht, also stellen wir uns zur Verfügung!»
Waisenhaus und Kindergarten
Bereits im Juli 1945 reiste eine SOS-Delegation nach Rimini, einige Monate später entwarfen Zöbeli und der Architekt Felix Schwarz Pläne für das neue Zentrum, das Centro educativo italo-svizzero (CEIS).
Neben einer ersten Hilfsaktion sah das Projekt die Einrichtung eines Kindergartens vor für hundert Kinder sowie ein Waisenhaus für weitere zwanzig Kinder.
Der Kern der Einrichtung bestand aus 13 Baracken der Schweizer Armee, die so eingerichtet waren, dass die Räume je nach den pädagogischen Bedürfnissen ständig umgestaltet werden konnten. Die Architektur spiegelt den pädagogischen Ansatz des CEIS, der besonderen Wert auf Teamarbeit und nicht-hierarchische Beziehungen legt.
Schwarz beschrieb die Ziele wie folgt: «Wir versuchen, das uns zur Verfügung stehende Baumaterial so zu organisieren, dass durch die Gestaltung der Umgebung die freie Bildung unserer Kinder gefördert wird.»
Am 1. Mai 1946 wurde das CEIS eingeweiht und beherbergte zunächst 150 Kinder im Kindergarten und 20 Kriegswaisen. Im folgenden Jahr wurde auch eine erste Grundschulklasse eingerichtet, und später wurde der gesamte Grundschulzyklus abgeschlossen.
Zur Gründungsgruppe gesellten sich in den ersten Jahren auch Schweizerinnen, die sich entschlossen hatten, in Rimini eine Lehre zu machen.
Ein krasser Gegensatz
Als private Schule hatte das CEIS eine gewisse Freiheit bei Stellenbesetzungen. Der sozialistische und antiautoritäre Ansatz der Schule und die Herkunft des Lehrkörpers erweckten jedoch auch Misstrauen in der lokalen Gesellschaft, zumal die Lehrmethoden des CEIS in krassem Gegensatz zu den Methoden der öffentlichen Schulen in Italien standen, die gerade erst eine über zwanzigjährige faschistische Diktatur hinter sich hatten.
Ausgehend von der Überzeugung, dass Bildung für den Aufbau einer demokratischeren und gerechteren Gesellschaft von grundlegender Bedeutung ist, legte die von Margrit Zöbeli gegründete Schule in Rimini grossen Wert auf die Autonomie und Würde der Schüler:innen.
«Das Kind wird zu eigenem Denken und Tun angeregt; jedes Kind wird als Persönlichkeit gewertet und behandelt. Die Achtung der Würde jedes Kindes ist oberstes Gebot», heisst es in einer Broschüre zum 20-jährigen Bestehen des CEIS.
Getreu den libertären Wurzeln ihresd Denkens hielt es Zöbeli für ebenso wichtig, die freie Entfaltung der individuellen Bestrebungen und Fähigkeiten der Schüler:innen zu ermöglichen, wie ihre aktive Teilnahme am Gemeinschaftsleben zu fördern.
Montessori und Freinet
Bezugspunkte waren etwa Maria Montessori und Célestin Freinet, der Begründer der Bewegung der «aktiven Schule», den Zöbeli in Frankreich persönlich kennengelernt hatte.
Auch ihre Erfahrungen in der sozialistischen Bewegung in der Schweiz hatten tiefe Spuren hinterlassen: «Schon in jungen Jahren hatte mir das Engagement in den von sozialistischen Idealen inspirierten Kinderfreunden in Zürich die Möglichkeit gegeben, ein von grossem Vertrauen in die Mitmenschen geprägtes Gemeinschaftsleben zu erleben», schrieb sie Jahre später.
Für eine andere Zukunft
In einem Land, das sich in der Nachkriegszeit für den Wiederaufbau nicht nur der materiellen, sondern auch der kulturellen Grundlagen der Zivilgesellschaft einsetzte, wurde das CEIS zum zentralen Begegnungs- und Forschungsort für fortschrittlichste internationale Pädagogik in Italien.
Um das CEIS herum entstand ein Netzwerk von Schulen und Erfahrungen, die auf eine Erneuerung der italienischen Schule und Gesellschaft ausgerichtet waren. Ausgehend von den Erfahrungen in der Arbeit mit kriegstraumatisierten Kindern weitete das CEIS 1953 – wiederum mit Schweizer Unterstützung – sein Tätigkeitsfeld aus und eröffnete das erste psychopädagogische Gesundheitszentrum in der Region.
Hier ein Beitrag von SRF aus dem Jahr 1989:
In den 1970er-Jahren geriet Margarita Zöbeli jedoch ins Zentrum der Proteste einer neuen Generation, die um 1968 herum herangereift war. Ihre Autorität wurde nun mit Autoritarismus verwechselt, das von den Mitarbeitenden geforderte allumfassende Engagement kollidierte mit den Gewerkschaftsrechten.
Sie selbst stand einem Freiheitsbegriff sehr kritisch gegenüber, den sie als «Verzicht auf jene Regeln des Zusammenlebens […], die notwendigerweise Verpflichtungen gegenüber der Gruppe mit sich bringen», betrachtete.
Obwohl die Konflikte beigelegt wurden, schied Zöbeli 1976 aus der Leitung des CEIS aus. Im selben Jahr arbeitete sie im Auftrag von SAH am Bau eines Kindergartens im erdbebengeschädigten Friaul. 1982 ging sie, inzwischen siebzigjährig, nach Nicaragua, um an einem Berufsbildungsprojekt mitzuarbeiten.
Später kehrte Margherita Zöbeli nach Rimini zurück. Sie blieb dem CEIS immer verbunden. Sie starb am 25. Februar 1996. Einige Jahre zuvor hatte sie geschrieben: «Wenn wir an die Zukunft denken, müssen wir sagen: Wollen wir eine Zukunft der Wiederholung oder wollen wir eine alternative Zukunft?»
Editiert und aus dem Italienischen übertragen von Balz Rigendinger
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