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«Eine Missachtung der Gebärarbeit von Frauen»

Eine Frau beim Gebären
Die schwedische Fotografin Moa Karlberg hat die Gesichter von Frauen beim Gebären fotografiert und daraus eine Bilderserie gemacht. Moa Karlberg

Auf Wunsch einer Leserin gehen wir der Frage nach, warum in der Schweiz bei einer Geburt meist ein Arzt anwesend ist. Dazu lohnt sich ein Blick zurück auf die Geschichte der Geburtshilfe. Denn der Streit zwischen Hebammen und Ärzten um das Sagen bei einer Geburt ist so alt wie der Beruf des Gynäkologen.

Dieser Text ist Teil einer Serie über das Thema Geburt. Wir haben unsere Leser und Leserinnen gefragt, welche Aspekte sie besonders interessieren. Die Texte sind anschliessend aus zahlreichen Interviews mit Müttern, Vätern, Hebammen, Doulas und Ärzten entstanden. Weitere Publikationen folgen:

Historisch war die Geburt lange eine reine Frauenangelegenheit, die zu Hause stattfand. Hilfe erhielten Gebärende durch weibliche Verwandte, Nachbarinnen und HebammenExterner Link. In Zürich gab es 1799 acht staatlich besoldete HebammenExterner Link – Ärzte gab es zur gleichen Zeit bloss halb so viele.

Mitte des 18. Jahrhunderts wurden in Europa erstmals Geburtshäuser eingerichtet, die vor allem Ausbildungszwecken dienten und deshalb überwiegend von ledigen oder armen Müttern genutzt wurdenExterner Link, die sich gleichzeitig als Studienobjekt zur Verfügung stellen mussten. Das aufkeimende Interesse der männlichen Ärzte an der Geburtshilfe war damals nicht unbedingt ein Segen: Wegen mangelnder Hygiene starben deutlich mehr Frauen in den Kliniken als bei hebammenbetreuten Hausgeburten.

Die Erfindung der Geburtszange im 17. Jahrhundert ermöglichte es den Ärzten, so manche Kinder zu retten, die sie früher zur Rettung der Mutter hätten im Mutterleib zerstückeln müssen. Das stärkte das Vertrauen in die Ärzte – und führte zu Streit mit den Hebammen. Die Kompetenzen der Hebammen wurden im 18. und 19. Jahrhundert nämlich immer stärker beschnittenExterner Link, sie durften keine Instrumente benutzen oder Medikamente abgeben. Trotzdem betreuten sie bis ins 20. Jahrhundert hinein die grösste Zahl GeburtenExterner Link, die weiterhin natürliche Hausgeburten waren. Erst im 20. Jahrhundert verlagerte sich das Geburtsgeschehen in Spitäler.

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Revival der Hausgeburt – dank Nazis

Die Nationalsozialisten förderten im Dritten ReichExterner Link aktiv die Hausgeburt unter Hilfe von Hebammen. Die Hausgeburt galt als heroisch, während eine Geburt im Krankenhaus als «Bequemlichkeit der Frau auf Kosten der AllgemeinheitExterner Link» bezeichnet wurde. Hebammen kamen im Nationalsozialismus grosser Stellenwert und Wertschätzung zu. Sie galten als «natürliche Verbündete im Kampf gegen den GeburtenrückgangExterner Link» und entsprechend wurde ihr Berufsstand in Deutschland gestärkt.

Auch in der Schweiz waren bis nach dem Zweiten Weltkrieg Hausgeburten der Standard. Nicht wegen nationalsozialistischem Gedankengut, sondern mangels Mobilität: Der Weg ins Spital dauerte einfach zu lang. Erst ab den 1950er-Jahren verdrängten Spitalgeburten die Hausgeburt – dank Mobilität und Krankenversicherung. Ärzte wurden wieder wichtiger, nicht zuletzt wegen des medizinischen Fortschritts, der zu einer drastischen Senkung der Mütter- und SäuglingssterblichkeitExterner Link führte. Die sogenannte «Medikalisierung der GeburtExterner Link» hielt Einzug.

«Die Geburtshilfe wurde medikalisiert, um gesundheitliche Schäden bei Müttern und Kindern zu verhindern», sagt Bioethiker Tobias EichingerExterner Link vom Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte der Universität Zürich. «Daraus zieht die Medizin als Kulturprojekt ganz allgemein ihre Legitimation. Will man zurück zur absoluten Natur, würde das nichts anderes bedeuten, als dass man Krankheit, Verletzungen und Tod zulässt.»

Die nächste Gegenbewegung liess dennoch nicht lange auf sich warten. Ab den 1970er-Jahren erwachte eine feministische Kritik an der als paternalistisch empfundenen Medikalisierung der Geburt. Wehenschreiber, Periduralanästhesie und Kaiserschnitt wurden als «Missachtung der Gebärarbeit» von FrauenExterner Link verstanden. «Mit der Medikalisierung erhielt das Gebären teilweise auch pathologische Züge», erläutert Eichinger. «Schmerzen, die natürlicherweise zur Geburt gehören, wurden mit medizinischer Hilfe vermeidbar und rückten damit in die Nähe krankhafter Erscheinungen.» Für viele Menschen gebe es hier gewisse ethische Grenzen, über die in unserer Zeit hinausgegangen werde.

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Kaiserschnitte sorgen für Aufregung

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Grosse Nachfrage nach hebammengeleiteter Geburt

Laut Eichinger ist heute deshalb eine Gegenströmung hin zur Demedikalisierung zu beobachten. Die in England, Holland und Deutschland schon länger etablierte «hebammengeleitete Geburt» wird auch in der Schweiz zum Trend. Das bedeutet, dass die Gebärende einzig durch die Hebamme betreut wird – ohne Beisein eines Arztes. Was in Geburtshäusern und bei Hausgeburten ohnehin der Fall ist, wird nun auch häufiger an Spitälern ausprobiert. Mehrere Schweizer Kliniken bauen zurzeit ihr Angebot entsprechend aus.

«Bei den Schwangerschaftskontrollen spielen Hebammen in der Schweiz leider keine so grosse Rolle wie früher, als es keine Gynäkologen gab», sagt Barbara StockerExterner Link, Präsidentin des HebammenverbandsExterner Link. Der Hebammenverband versucht, das zu ändernExterner Link, damit später auch die Geburt möglichst natürlich ablaufen kann. «Eine gesunde Frau braucht nicht zwingend einen Arzt oder ein Spital mit High-Tech-Ausrüstung, sondern sie ist auch bei einer Hebamme gut aufgehoben», so Stocker.

Skeptischer diesbezüglich ist Roland ZimmermannExterner Link, Gynäkologe und Klinikdirektor der Klinik für Geburtshilfe des Universitätsspitals Zürich: «Bei jeder Geburt können aus heiterem Himmel Probleme auftauchen.» Er steht deshalb dem vehementen Bestreben des Hebammenverbandes nach einer «hebammengeleiteten Geburt» sehr skeptisch gegenüber.

Es wird denn auch bei einer hebammengeleiteten Geburt der Arzt beigezogen, sobald es Komplikationen gibt. Und das mit gutem Grund: Geht etwas schief, sind die Spitäler haftbar. Und das kann teuer werden. Ein Schweizer Gericht hat einer Mutter und ihrem Kind 140’000 Franken Schadenersatz zugesprochenExterner Link, weil die Hebamme den Arzt nicht rechtzeitig zu Hilfe gerufen hatte und das Kind in der Folge wegen Sauerstoffmangels Hirnschäden erlitt.

Ärzte und Hebammen sollten zusammenarbeiten

Die Medikalisierung der Geburt ist also Ausdruck des Sicherheitsbedürfnisses. «Scheitern ist bei der Geburt nicht vorgesehen», sagt Monika WickiExterner Link, Zürcher Kantonsrätin und Präsidentin der IG nachhaltige GeburtshilfeExterner Link. «Wenn etwas schiefläuft, dann wird eine Untersuchung eingeleitet. Man muss das genau prüfen, das ist richtig. Nicht richtig ist aber, einfach nur nach einem Schuldigen zu suchen.» Denn manchmal sei niemand schuld, alles sei richtiggemacht worden.

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Hebammen gegen Wunschkaiserschnitte

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Laut Wicki mangelt es an der Kooperation zwischen Ärzten und Ärztinnen sowie Hebammen. «Sie sollten Respekt vor der Arbeit des anderen haben und sich bemühen, eine gemeinsame Sprache finden.» Nur so funktioniere die Zusammenarbeit, die für die gebärenden Frauen wichtig wäre.

Das sieht Zimmermann sehr ähnlich: «Ich vertrete stark die ‹teamgeleitete Geburt›, wobei je problemloser der Verlauf ist, der Hebamme, und je komplikationsreicher der Verlauf, desto mehr dem Arzt und dem ganzen Team viel mehr Bedeutung zukommt.» Junge Ärzte müssen laut Zimmermann die ganze Bandbreite der Normalität kennenlernen. Nur so lernten sie, auf in vielen Situationen unnötige Interventionen zu verzichten. Würde man sie bei «normalen» Geburten ausschliessen, würde man sie gemäss Zimmermann dieser Erfahrung berauben. Andererseits müssten junge Hebammen lernen, bei manchmal erst subtilen Veränderungen die Ohren zu spitzen und rechtzeitig zusammen mit den Ärzten zu intervenieren. «Letztendlich profitiert die Gebärende von einer guten Teamarbeit», betont auch Zimmermann.

In der Praxis scheint es aber immer noch eine Konkurrenzsituation zwischen Ärzten und Hebammen zu geben. Manche Frauen vertrauen eher der Hebamme, andere eher den Ärzten. «Ich hatte den Eindruck, Ärzte seien liberal, Hebammen hingegen sehr dominant», sagt eine Mutter zu swissinfo.ch. Eine andere Mutter berichtet, sie habe eher auf die Hebamme gehört.

Würden Sie lieber nur mit Hilfe einer Hebamme gebären oder muss Ihrer Meinung nach zwingend ein Arzt bei der Geburt dabei sein? Diskutieren Sie mit uns in den Kommentaren!

Kontaktieren Sie die Autorin @SibillaBondolfi auf FacebookExterner Link oder TwitterExterner Link.

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