Wie kann die Zahl der Ärzte erhöht werden?
Die Schweiz hat eine hohe Dichte von Ärzten pro Kopf der Bevölkerung. Warum denken dennoch praktisch alle, es herrsche ein Ärztemangel?
Wer kleine Kinder hat, ist froh, dass man beim lokalen Kinderarzt oder Allgemeinpraktiker rasch einen Termin erhält. Auch Spitaltermine können in der Schweiz ziemlich rasch organisiert werden.
Mit einer Dichte von 4 Ärzten auf 1000 Einwohner liegt die Schweiz gemäss einer Liste der OECD von 2013Externer Link auf dem 7. Rang (das benachbarte Österreich liegt mit 5 pro 1000 auf dem ersten Rang). Die Schweiz weist eine ähnliche Dichte auf wie Deutschland und Frankreich und übertrifft damit Länder wie die USA oder Grossbritannien deutlich.
Doch kratzt man etwas an der Oberfläche, sieht man, dass etwa 30% der in der Schweiz praktizierenden Ärzte und Ärztinnen eine ausländische Ausbildung haben. In den Spitälern sind es gar 40%.
Der Grund liegt darin, dass die Schweiz nicht genug Ärztinnen und Ärzte im Inland ausbildet – eine Situation, welche die Regierung nun ändern will. Sie erklärte, um die Gesundheitsversorgung im Land gewährleisten zu können, brauche es bis 2025 pro Jahr 1300 neue Mediziner. Derzeit werden pro Jahr 900 Ärztinnen und Ärzte ausgebildet.
Die Bemühungen erfolgen, wie die Regierung in einer MitteilungExterner Link Anfang dieses Jahres erklärt hatte, «… nicht zuletzt vor dem Hintergrund des möglicherweise erschwerten Zugangs zu ausländischen Fachkräften infolge der Annahme der Masseneinwanderungs-Initiative (Artikel 121a BV)».
Die im Februar 2014 vom Stimmvolk angenommene Initiative sieht die Wiedereinführung von Kontingenten vor, um die Einwanderung aus der Europäischen Union zu begrenzen. Ein Entscheid, dessen Auswirkungen vor allem auch den Gesundheitssektor hart treffen dürften.
Die Regierung kündigte daher an, sie werde die medizinische Ausbildung im Inland zwischen 2017 und 2020 einmalig mit zusätzlich 100 Millionen Franken unterstützen.
Bevorstehende Veränderungen
Universität Zürich, Ankündigung vom 15. Juli: 72 zusätzliche Studienplätze auf Bachelor-Stufe (medizinische Grundausbildung), die Master-Stufe sollen die Studierenden neben Zürich auch in St. Gallen (ab 2020) Luzern oder Lugano machen können. Letztere drei Institutionen haben bisher keine medizinische Fakultät, hegen aber seit längerem Pläne, eine solche einzurichten. Details werden noch ausgearbeitet.
Universität Bern, Ankündigung vom 1. Juli: Ab 2018 werden pro Jahr 100 weitere medizinische Studienplätze angeboten; mit dem Ausbau wird die Medizinische Fakultät der Universität Bern zur grössten der Schweiz.
Die Eidgenössische Technische Hochschule Zürich (ETHZ) hegt seit längerer Zeit Pläne, ab 2017 ein medizinisches Bachelor-Programm anzubieten, für die Master-Stufe sollen Abmachungen mit anderen Institutionen getroffen werden.
Universität Freiburg: Langfristige Pläne, Ausbildung auf Master-Stufe anzubieten (die medizinische Ausbildung auf Bachelor-Stufe gibt es an der Universität bereits).
Die Eidgenössische Technische Hochschule Lausanne (EPFL) führt Gespräche über die Einführung eines Brückenprogramms für bis zu 40 Studenten und Studentinnen mit einem EPFL-Bachelor-Abschluss (nicht-medizinisch), aufgrund dessen diese eine medizinische Ausbildung auf Master-Ebene an den Universitäten in Genf oder Lausanne aufnehmen könnten.
(Quellen: Schweizerische Depeschenagentur (SDA), Schweizer Fernsehen SRF, Universität Bern)
Schon davor hatten bestehende medizinische Fakultäten (Universität BernExterner Link und Universität ZürichExterner Link) angekündigt, dass sie die Anzahl der medizinischen Studienplätze erhöhen werden. Andere Institutionen (die Universitäten St. Gallen und Luzern) gaben ihrerseits bekannt, in Zukunft ebenfalls in diesem Ausbildungsbereich aktiv werden zu wollen.
Die Regierung ist sich bewusst, dass der Wandel nachhaltig sein muss, wie unter anderem in einem umfassenden Bericht des Innen- und des WirtschaftsministeriumsExterner Link festgehalten wurde.
«Medical School»-Modell?
Daher beauftragte die Regierung auch Antonio Loprieno, den ehemaligen Rektor der Universität Basel, zu untersuchen, welche anderen Wege unter anderem eingeschlagen werden könnten, um die Zahl junger Mediziner und Medizinerinnen zu erhöhen. Eine Antwort, die er in seinem im letzten Sommer veröffentlichten BerichtExterner Link gibt, ist der Vorschlag zur Einrichtung von so genannten Medical Schools, nach dem Vorbild der USA und Grossbritanniens.
«Ich denke, mit dem angelsächsischen Modell der Medical School könnte man einerseits den Zugang zum Medizinstudium flexibler gestalten und sich andererseits verstärkt auf klinische Forschung konzentrieren, einen Bereich, in dem wir nicht die gleiche Spitzenposition belegen, wie in anderen Forschungsbereichen», sagt Loprieno gegenüber swissinfo.ch.
In der Schweiz erstreckt sich das Medizinstudium über sechs Jahre, unterteilt in eine Bachelor- und eine Master-Stufe. In den USA findet der klinische Teil der Arztausbildung zum Beispiel im Rahmen der vier Jahre dauernden Medical Schools statt, die mit Lehrspitälern verbunden sind – und es braucht keinen medizinischen Hintergrund, um an einer dieser Schulen zugelassen zu werden (so reichen zum Beispiel Kenntnisse in Biologie aus). Loprieno ist der Ansicht, dass ein System nach dem Modell der USA die Zahl der Medizinstudium-Absolventen beträchtlich ankurbeln könnte.
Natürlich ist er sich bewusst, dass es eine Zeitlang dauern würde, das System zu verändern. «Bei meinem Vorschlag ging es um die Einführung einer einjährigen Premed-School, die Studierenden mit einem Bachelor aus bestimmten naturwissenschaftlichen Fächern den Zugang zu einem medizinischen Master-Programm erlauben würde», erklärt Loprieno. Dieses Brückenjahr würde den Namen «Swiss Premed» tragen.
Reaktion
Werner Bauer, Leiter des Schweizerischen Instituts für ärztliche Weiter- und FortbildungExterner Link, (ein autonomes Organ des Berufsverbands der Schweizer Ärztinnen und Ärzte, FMH), erklärt jedoch, der Bericht von Loprieno sei interessant und könne die Diskussion anregen. Die Ideen stiessen aber bei Schweizer Medizinern nur auf geringe Akzeptanz. Zudem zeigten die 100 Millionen Franken des Bundes schon erste Auswirkungen, so Bauer.
«Wir hatten jüngst ein Treffen mit Innenminister Alain Berset und konnten feststellen, dass wir heute etwa 1100 Studienplätze haben. Ich denke, es ist realistisch, dass wir bis 2021/2022 bei 1300 bis 1400 liegen werden. Natürlich braucht es Zeit, ein Wechsel zum anglo-amerikanischen Modell würde aber auch seine Zeit dauern», sagt Bauer.
Zudem würde es teuer kommen, solche Medical Schools einzurichten. «Und es würde eine totale Reorganisation des gesamten Systems bedingen, ohne irgendwelchen offensichtlichen Mehrwert», erklärt Henri BounameauxExterner Link, Präsident des Kollegiums der Dekane der fünf Medizinischen Fakultäten der Schweiz (Basel, Bern, Genf, Lausanne und Zürich).
Andere Probleme
Für Bounameaux, Dekan der Medizinischen Fakultät der Universität Genf, ist zudem nicht der Ärztemangel das grösste ProblemExterner Link, sondern der Mangel an Allgemeinärzten.
«Wenn wir nur die Anzahl der Ärzte erhöhen und diese alle Fachärzte werden, haben wir ein Problem. Und wir könnten dieses Problem noch verschärfen, wenn wir nicht eine gewisse Art Regulierung einführen, die es für junge Ärzte attraktiver machen würde, Allgemeinpraktiker zu sein», erklärt er gegenüber swissinfo.ch. Er fügt hinzu, dass die langen Arbeitsstunden und niedrigere Gehälter junge Mediziner davon abhielten, als Allgemeinpraktiker zu arbeiten. «Und um dieses Problem kümmern sich die Behörden in der jetzigen Phase nicht.»
Es gibt zudem noch weitere Probleme: «Wir haben ein Problem zwischen Städten und ländlichen Regionen, und eines zwischen Sprachregionen. In der französischsprachigen Schweiz gibt es mehr Ärzte, als in der Deutschschweiz: 32% der neuen Ärzte finden sich in der Romandie, bei einem Bevölkerungsanteil von nur 25%.» Die Deutschschweiz, sagt Bounameaux, müsse aufholen.
Und dann gibt es die Frage rund um die Zahl der mindestens 1300 neuen Ärzte pro Jahr. Bauer erklärt, noch werde sich zeigen müssen, ob dies bis 2025 ausreichend sein werde, vor allem angesichts der wachsenden Zahl von Ärztinnen und Teilzeitarbeitenden.
«Zurzeit ist es eine Hypothese, die Sinn macht. Alle sind mehr oder weniger einverstanden, dass wir diese Zahl erreichen sollten. Aber auch dann werden wir in Spitälern nicht auskommen ohne [eine substanzielle Zahl] ausländische Ärzte… Das Problem ist wirklich sehr komplex.»
Haben Sie mit dem Schweizer oder dem US-System des Medizinstudiums Erfahrungen gemacht? Lassen Sie uns Ihre Meinung zu den in diesem Artikel erörterten Themen wissen.
(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)
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