Der Stress der Süchtigen im Lockdown
"Wo sind sie geblieben, all die Obdachlosen, Drogenabhängigen und Bettler?“ Gaby Ochsenbein hat sich in Lockdown-Bern umgesehen. Die frühpensionierte ehemalige Redaktorin von swissinfo.ch schreibt in dieser beispiellosen Zeit über ihre Beobachtungen – aus persönlicher Sicht.
Normalerweise wird man in der Innenstadt alle paar Meter um Kleingeld angegangen, Strassenmusiker beglücken einen bei schönem Frühlingswetter mit Darbietungen in unterschiedlicher Qualität und Lautstärke, und Trinker sitzen auf der Treppe vor der Heiliggeistkirche beim Bahnhof und kippen ihr Dosenbier. Doch seit das Notrecht in Kraft ist, ist alles anders.
Die Stadt ist leer und heruntergefahren: Die erst kürzlich installierten Bänke beim Bahnhof sind abgesperrt. Auch Parks, Gärten und Terrassen in Bern sind geschlossen. Die Polizei patrouilliert öfter als üblich und sorgt für Ordnung. Gemütliches Zusammensein ist untersagt.
Letzte Woche fragte mich ein ziemlich schmuddeliger Junkie um einen „Stutz“ (1 Franken). Ich murmelte etwas von „habe grad nichts dabei“, schämte mich dann aber für mein Verhalten. Denn für Drogenabhängige ist es in der Zeit von Hygiene und Abstandhalten wohl alles andere als einfach, an Geld zu kommen. Und dieses brauchen sie, um an ihren Stoff zu kommen.
Um es wieder gut zu machen, gab ich zwei Tage später einem Handschuh tragenden Bettler einen Fünfliber. Es sei eine schwierige Zeit, meinte er. Die Leute hätten Angst und würden das Kleingeld jeweils in sicherem Abstand auf den Boden legen. Der Mann freut sich auf die angekündigte Lockerung der Massnahmen, weil die Stadt dann wieder belebter sei und er auf mehr Einnahmen hoffen kann.
Stress im Lockdown
Menschen, die am Rande der Gesellschaft leben, trifft die jetzige Ausnahmesituation ungleich härter als die Durchschnittsberner. Zwar sind Gassenküche, Notschlafstelle, Passentenheim der Heilsarmee für Obdachlose und andere niederschwellige Angebote geöffnet. Sie mussten ihren Betrieb wegen Corona jedoch einschränken.
Vor der Drogenanlaufstelle, wo die Süchtigen ihren Stoff konsumieren und „kleindealen“ können, herrschen strikte Regeln. Mehrere Polizisten mit Mundschutz sind vor Ort und passen auf, dass der Zwei-Meter-Abstand strikt eingehalten wird. Das Gedränge ist gross, der Stress wohl auch – denn wer süchtig ist, hat Mühe mit Warten in der Schlange.
Ob es Platz für alle hat? Oder muss man jetzt fürchten, dass wieder eine offene Drogenszene entsteht? Das wäre fatal, denn die Drogensüchtigen gehören mit ihrer angeschlagenen Gesundheit zur Risikogruppe.
Vor dem geschlossenen Restaurant Casa Marcello, einem seit Jahrzehnten beliebten „Zuhause“ für Randständige, ist ein Mann im Rollstuhl unterwegs. Den Mundschutz trägt er unter dem Kinn, damit er an seiner Zigarette ziehen kann.
Freiraum im Lockdown
Gegenüber dem Bundeshaus stehen zwei Polizisten und lachen. Eben hatten sie ein kurzes Gespräch mit einem mindestens 85-jährigen Mann am Rollator. Wahrscheinlich ermahnten sie ihn, doch zu Hause zu bleiben. Der Greis schlurft weiter Richtung Supermarkt.
In der Nähe des Zeitglockenturms profitiert ein junger Rollbrettfahrer vom Corona-bedingten Freiraum und übt gewagte Kunststücke. In normalen Zeiten wäre das nicht möglich. Dafür fehlt an der Ecke der Flüchtling aus Eritrea, der sonst unermüdlich das Strassenmagazin „Surprise“ verkauft.
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