Ein gespenstischer Tag in der Leere Berns
«Wer kann, verzichtet offenbar auf den öffentlichen Verkehr in und um Lockdown-Bern“, sagt Gaby Ochsenbein. Die ehemalige Redaktorin von swissinfo.ch schreibt in dieser beispiellosen Zeit über ihre persönlichen Beobachtungen.
Seit Corona uns plagt und das Notrecht regiert, war ich nie mehr mit Tram, Postauto, Bus oder Zug unterwegs, sondern mit dem Velo oder zu Fuss. Trotz Pandemie-Krise befahren die öffentlichen Verkehrsmittel fleissig das Stadtnetz, mit leicht reduziertem Fahrplan. Nur wenige Menschen nutzen sie – und sitzen wenn möglich weit auseinander, jeder und jede für sich.
Normalerweise wird der ÖV in und um Bern rege genutzt, in Stosszeiten stehen die Leute gar dicht gedrängt in Tram und Bus. Jetzt aber ist alles anders: Wer kann, macht Homeoffice, zur Schule und an die Uni geht man nicht, shoppen auch nicht, und Ausflüge verschiebt man auf später – wann immer das sein wird.
Ich wollte wissen, wie sich das anfühlt in dieser Zeit und kaufte eine ÖV-Tageskarte für Bern und Umgebung. Vier Stunden lang fuhr ich durch die Gegend: gen Norden, Süden, Westen, Osten, mit Tram, Bus, Postauto und S-Bahn, insgesamt stieg ich neun Mal um.
Augenschein im Berner Nahverkehr
Die Türen öffnen sich automatisch, als ich um 8 Uhr ins Tram steige – eine Corona-Massnahme. Nach drei Stationen wechsle ich auf den Bus Richtung Ostermundigen. Wie bei allen Bussen ist die erste Sitzreihe hinter dem Fahrer abgesperrt, zum Schutz des Personals.
Als ich nach zwei Mal Umsteigen beim menschenleeren Bahnhof Wankdorf die aus dem Emmental kommende S-Bahn nehme, bin ich der einzige Fahrgast im Waggon. An den Zugwänden überall Plakate: Bitte Hände waschen, Abstand halten, in den Ellbogen niesen.
Ich fahre zum Europaplatz. Von dort geht’s weiter Richtung Westen, mit Tram Nummer 8. Hier bin ich nicht allein, die Sitze sind zu einem Drittel besetzt – und ich somit peinlich darauf bedacht, den nötigen Abstand zu wahren. In den Hochhaussiedlungen dieses Multi-Kulti-Quartiers leben viele Leute mit tiefen Einkommen. Sie sind wohl auf den ÖV angewiesen.
Leerer Bahnhof
Zurück nehme ich den Vorortszug, der mich zum Berner Hauptbahnhof bringt. Und der ist gespenstisch leer: kein reges Hin- und Her, kein Gedränge, keine Reiselustigen, die am Treffpunkt mit Sack und Pack auf Freunde warten, um in die Berge oder ans Meer zu fahren.
Meine letzte Etappe führt mich mit dem Postauto über die Aare nach Hinterkappelen. Knapp 10 Passagiere sind wir, mehr als die Hälfte über 65 Jahre alt. Dies obwohl Menschen im Rentenalter auf Fahrten mit dem öffentlichen Verkehr verzichten sollten.
Am Bildschirm laufen die neusten News. Einmal mehr drehen sie sich um das unberechenbare Virus. Ich lese, dass in Frankreich Besuche in Altersheimen wieder erlaubt sind, Roms Profi-Fussballer auf vier Monatsgehälter verzichten, die Kinder in den Flüchtlingscamps auf Lesbos in höchster Gefahr sind und eine Mehrheit der Schweizer Bevölkerung eine Maskenpflicht begrüsst.
Schutzmasken tragende Leute habe ich an diesem Tag im Berner ÖV übrigens nur wenige gesehen, vielleicht ein knappes Dutzend. Aber wer weiss: Kann sein, dass wir in absehbarer Zukunft alle und immer einen Mundschutz dabei haben – zusammen mit Portemonnaie, Schlüssel, Sonnenbrille und Handy.
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