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«Meine Eltern sahen mich lieber tot»

Zwangsheirat
Keystone/EPA


Giulia war noch minderjährig, als sie einem Freund der Familie versprochen wurde. Sie wehrte sich, flüchtete und zeigte ihre Eltern an. Der Bericht einer jungen Frau, die sich vor einer Zwangsheirat retten konnte.

Giulia* war verliebt. Sie lernte ihn im Internet kennen, per Zufall. Sie wusste, dass ihre Eltern dies nicht gutheissen würden. Sie hielt die Beziehung geheim, agierte zurückhaltend und vorsichtig.

Er wohnte in einem Dorf auf dem Balkan, wenige Kilometer entfernt von der Stadt, in der sie geboren wurde. Sie traf ihn heimlich, hatte jedoch kaum Gelegenheit dazu.

Zu dieser Zeit war Giulia etwas mehr als 16 Jahre alt. Ihre Familie immigrierte in die Schweiz, als sie noch klein war, nach dem Krieg in Ex-Jugoslawien. Ferien in der Heimat, Respekt vor den Traditionen, soziale Kontrolle, das waren die Eckpunkte ihres Lebens.

Giulia wurde geschlagen und jemand anderem zur Heirat versprochen. Ihr Freund gefiel den Eltern nicht – und noch viel weniger ihre selbstbestimmte Haltung.

Gewalt und Kontrolle

«Wir waren bei unseren Verwandten auf dem Balkan, als meine Eltern dahinterkamen. Ich war 17 Jahre alt und es war rund ein Jahr vergangen, seit ich ihm zum ersten Mal im Internet begegnet bin. Meine Familie flippte total aus. Meine Mutter schlug mir mit einem Plastikhammer auf den Kopf. Mein Vater warf Gegenstände nach mir, mein Onkel prügelte mich», erinnert sich Giulia, die heute zwanzigjährig ist.

«In den folgenden Wochen wurde ich im Haus eingeschlossen. Ich konnte nicht mehr zur Toilette, ohne dass mich jemand kontrollierte. Ich konnte auch das Telefon nicht benutzen, ohne dass jemand mithörte.»

Um das Problem ein für alle Mal zu lösen, schlugen die Eltern Giulia vor, sich mit einem jungen Mann zu verheiraten, einem Freund der Familie, der auf dem Balkan lebte. «Ein anständiger Typ», sagten sie mir, «er lässt dich studieren und arbeiten».

Giulia akzeptierte, gegen ihren Willen. Sie sah in dieser Heirat eine Möglichkeit, sich von der Unterdrückung durch die Familie zu befreien. Schlimmer als eine Gefangene zu sein, kann es nicht werden.

Als sie in die Schweiz zurückkehrte, merkte sie jedoch, dass die Kontrolle der Eltern durch die Kontrolle des Verlobten ersetzt wurde. Er rief sie ständig an, machte ihr Eifersuchtsszenen, wollte wissen, wo und mit wem sie war.

Schliesslich kontrollierte er ihr Telefon, ihre Emails, ihr Bankkonto. Sogar ihre ältere Schwester half mit, sie übernahm die Rolle einer Spionin statt einer Verbündeten. Die Streitereien nahmen zu und die junge Frau isolierte sich immer mehr.

Zwischen Tradition und Integration

Seit ihrer Kindheit wusste Giulia, dass sie einen Mann mit den gleichen kulturellen, ethnischen und religiösen Wurzeln heiraten würde. Ein anderes Szenario war undenkbar. Ihre Eltern hatten sie nach den Traditionen ihres Herkunftslandes erzogen, manchmal bis zum Übermass.

«Ich habe den Eindruck, dass die Frauen meines Landes mehr Rechte haben als ich und meine Schwestern. Wir dürfen am Abend nicht ausgehen, wir dürfen uns nur mit Freunden der Familie treffen, kein Schminken, keine Verfehlungen.»

Die Strenge der Eltern, fährt Giulia fort, war eine Art, den Kontakt zu ihrer Herkunft nicht zu verlieren, zu unterstreichen, dass sie, obwohl jetzt in der Schweiz lebend, ihre Herkunft nicht vergessen haben. Der Integrationsprozess schien in der Familie von Giulia nicht zu greifen, sie isolierte sich sozial und kulturell.

«Mein Zuhause war nicht nur mein Refugium, sondern gleichzeitig ein schablonenhaftes Abbild meines Landes im Kleinformat. Und obwohl ich mich nie ganz als Schweizerin fühle, sehe ich mich in meinem Heimatland wie ein Fisch ohne Wasser. Eigentlich bin ich weder von hier noch von dort; ich bin alles oder nichts.»

Die Flucht

Seit dem Tag, an dem sie ihr Versprechen zur Heirat abgegeben hatte, waren fünf Monate verflossen. In dieser Zeit kehrte Giulia nur einmal auf den Balkan zurück. Beim Zusammentreffen mit ihrem zukünftigen Mann fühlte sie Ekel und Wut. Doch sie liess sich nichts anmerken, sie wollte an der Hochzeit ihrer Schwester keine Familienkrise heraufbeschwören.

Auch diese Hochzeit war arrangiert worden, jedoch mit der Zustimmung beider. «Man muss es erdulden», sagte mir meine Schwester. «Die Liebe kommt mit der Zeit. Du wirst ihn besser kennen und schätzen lernen. Bei mir war es so.»

Als sie wieder in die Schweiz zurückkehrten, verschlimmerte sich die Situation. Die Eltern drohten ihr, sie zurückzuschicken, um «das Problem zu lösen». Heftige Wortgefechte mündeten in Todesdrohungen. «Für sie war es undenkbar, das Versprechen aufzulösen. Für die Leute wäre ich eine Nutte gewesen und ich hätte riskiert, dass die Familie in den Dreck gezogen worden wäre.»

Eines Tages hielt Giulia den Druck der Familie und des Verlobten nicht mehr aus und kehrte von der Arbeit nicht mehr nach Hause zurück. Sie flüchtete zu Freunden von Freunden, die sie nicht einmal kannte, ohne Geld in der Tasche und ohne Wäsche zum Wechseln.

Gesetz der Schweigepflicht

Dank der Hilfe von Sozialarbeitern findet Giulia Unterschlupf in einem Zentrum für Gewaltopfer. Dort zählt man jährlich rund zehn Fälle von Zwangsheiraten. Trotz der schützenden Mauern lebt sie in ständiger Angst, ihr Vater würde sie zurückholen. Ein Vater, der sogar einen Detektiv engagiert hätte, um herauszufinden, wo sie lebte und eines Tages vor der Türe auftauchen würde.

Giulia entschliesst sich, ihre Eltern wegen Körperverletzung und Drohung anzuzeigen. «Es hat mich viel gekostet, diesen Schritt zu tun. Ich wollte nicht, dass sie im Gefängnis landeten, ich wollte ihnen nicht wehtun.»

Die Strafe wird auf Bewährung ausgesprochen und nun, fast ein Jahr später, hat Giulia das Zentrum verlassen und ihre Unabhängigkeit zurückerobert. Sie nimmt mit ihren Eltern allmählich wieder Kontakt auf.

«Trotzdem, nach allem, was ich erlebt habe, konnte ich die Verbindung zu meiner Familie nicht abbrechen. Manchmal besuche ich sie, doch sie wissen immer noch nicht, wo ich wohne und wie mein Alltag aussieht. Ich versuche Distanz zu wahren, meine Autonomie zu verteidigen.»

Giulia ist heute etwas mehr als zwanzig Jahre alt und will im Moment von Männern nichts wissen. Sie konnte einer Zwangsheirat entkommen und ist daran, ihr Leben schrittweise neu aufzubauen. «Heute habe ich den Eindruck, dass ich eine andere Frau bin und dass das Geschehene nicht mir passiert ist. Ich habe geweint, ich habe gelitten, aber für die Freiheit, die ich heute habe, hat es sich gelohnt.»

* Name von der Redaktion geändert

In der Schweiz ist das Recht auf Ehe ein in Art. 14 der Bundesverfassung und in Art. 13 der Europäischen Menschenrechts-Konvention festgelegtes Grundrecht.

Die Eheschliessung ist erst nach dem 18. Lebensjahr gestattet und ruht auf dem freien Willen beider Partner. Nach Schweizer Recht darf niemand zur Eheschliessung gezwungen werden.

Die aktuelle rechtliche Situation sieht folgende Massnahmen vor:

– Auf strafrechtlicher Ebene kann ein Opfer einer Zwangsheirat Anzeige erstatten auf der Grundlage von Art. 181 des Strafgesetzbuches. Die Höchststrafe beträgt 3 Jahre Gefängnis.

– Art. 99 Abs. 3 des Zivilgesetzbuches sieht vor, dass das Zivilstandsamt verpflichtet ist, zu überprüfen, ob alle Bedingungen der Eheschliessung erfüllt sind.

– Grundsätzlich wird eine im Ausland geschlossene Ehe in der Schweiz anerkannt, es sei denn, sie verstosse gegen Normen des Landesrechts.

– In diesem Sinn könnte eine im Ausland geschlossene Ehe mit einer Minderjährigen im Prinzip anerkannt werden, wenn sie nicht gegen die schweizerische Regelung verstösst und innerhalb des geltenden Rechts im entsprechenden Land geschlossen wurde.

Das Problem der Zwangsheiraten wurde in der Schweiz 2006 zum ersten Mal thematisiert, nach Veröffentlichung einer Studie der Stiftung Surgir. Die UNO schätzt, dass rund 17’000 Personen davon betroffen sind. Die angewendete Methode der Studie wurde von verschiedener Seite in Zweifel gezogen.

Die Resultate haben Trix Heberlein, Ex-Ständerätin der FDP/Die Liberalen veranlasst, eine Motion einzureichen, um mit gesetzgeberischen Massnahmen das Problem anzugehen.

Auf Druck des Parlaments verabschiedete der Bundesrat im Februar 2011 eine entsprechende Botschaft zuhanden des Parlaments.

Diese gesetzliche Grundlage sieht unter anderem vor, dass Zwangsheiraten von Amtes wegen verfolgt werden und Eheschliessungen mit Minderjährigen, die im Ausland geschlossen wurden, vom Schweizer Recht nicht mehr anerkannt werden.

(Übertragen aus dem Italienischen: Christine Fuhrer)

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