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«Meine Mutter wollte unbedingt sterben»

Mit der Zeit konnte Bettina Kläy akzeptieren, dass ihre Mutter sterben wollte. swissinfo.ch

An ihrem letzten Tag ging Annemarie Trechsel mit ihrem Ex-Gatten und ihrem Sohn zum Mittagessen, dann begab sich die kranke Frau in die Wohnung ihrer Tochter in Bern. Die Dignitas-Mitarbeiterin traf um 13.15 Uhr ein. Zwei Stunden später war die 78-Jährige tot.

«Sie war ganz heiter nach dem Essen und ganz ruhig. Sie sagte einfach: So, jetzt will ich sterben», erinnert sich ihre Tochter Bettina Kläy. «Sie wollte nicht lange Musik hören, obwohl sie Musik sehr liebte. Sie wollte das Ganze möglichst schnell durchziehen.»

Es war der klare Wunsch der Mutter, ihr Leben im Juni 2004 in der Wohnung ihrer Tochter zu beenden. «Für mich war das ein Risiko. Ich wusste nicht, ob jetzt ein Strafverfahren auf mich zukommt, da ich ja auch Erbin war. Sterbehilfe ist in der Schweiz zwar legal, solange die Begleitperson aus dem Tod keinen persönlichen Nutzen zieht», erklärt Kläy.

Annemarie Trechsel verbrachte ihre letzten fünf Jahre in einem Altersheim. Obwohl der Leiter der Institution ihren Wunsch zu sterben unterstützte, war er dagegen, dass der Suizid unter seinem Dach stattfand.

«So blieb uns nur die Wahl zwischen der Wohnung der Sterbehilfe-Organisation Dignitas und meiner Wohnung. Meine Mutter zog es vor, in vertrauter Umgebung zu sterben.»

Protokoll des Freitodes

Wie das in einem Formular für Sterbehilfe geregelt ist, kontaktierte die Vertreterin von Dignitas nach Eintreten des Todes die Polizei. Zuvor hatte Annemarie Trechsel mit einem Glas Wasser eine Dosis des Betäubungsmittels Natrium-Pentobarbital zu sich genommen und war gestorben.

Innert einer halben Stunde traf ein lokaler Polizist ein und liess umgehend einen Gerichtsmediziner kommen. «Sie haben im Schlafzimmer alles genauestens untersucht, während wir draussen warten mussten. Sie suchten nach allfälligen Anzeichen von Gewalteinwirkung. Alles wurde sauber abgeklärt. Glücklicherweise hörte ich nie mehr etwas von ihnen.»

Bettina Kläy hatte zu ihrer Mutter eine sehr enge Beziehung. «Sie war eine liebenswürdige Person und sehr kommunikativ. Sie hatte Gedichte geschrieben, die publiziert wurden. Ihre Unabhängigkeit war ihr sehr wichtig.»

Im Alter von 72 erlitt Annemarie Trechsel einen Hirnschlag. Nach dem Schlaganfall hatte sie Mühe mit Sprechen und zudem Gleichgewichtsstörungen und motorische Probleme.

«Wenn ich sie besuchte, konnte sie manchmal in einer Stunde nur einen einzigen Satz sagen. Das war mit ein Grund, dass sie aus dem Leben scheiden wollte.»

Kläy und ihre Familie unterstützten ihre Mutter dabei, solange wie möglich unabhängig zu leben. Nach einem schweren Sturz beschlossen sie, dass Annemarie Trechsel mit 75 in ein Pflegeheim kam – mit ihrem Einverständnis.

Der Wunsch zu gehen 

«Als sie erstmals den Wunsch zu sterben äusserte, versuchte ich, sie davon abzubringen. Ich sagte ihr, bald komme der Frühling, dann würde es ihr besser gehen. Sie warf mir vor, ich nähme sie nicht ernst.»

Mit der Zeit stellte sich Kläy auf den Wunsch ihrer Mutter ein. «Ich sah, wie ihr kranker Körper und ihre Sprachstörungen sie unglücklich machten und konnte verstehen, wieso sie es so wollte.»

Trechsel hatte Kenntnis von Dignitas und deren Arbeit, war aber nicht in der Lage, alles selber zu organisieren. Sie bat ihre Tochter, in ihrem Auftrag mit der Organisation in Verbindung zu treten.

Als die Dignitas-Vertreterin Annemarie Trechsel besuchte, konnte sie ihren Wunsch noch selber formulieren und beweisen, dass sie voll bei Verstand war. Sie unterzeichnete die nötigen Unterlagen. Am Tag ihres Todes wurde sie ersucht, eine letzte Bestätigung über ihren Todeswunsch zu unterzeichnen.

Ein würdiger Tod

Ein kleiner Kreis von Menschen – Trechsels Ex-Gatte, ihr Sohn, ihre Tochter und eine langjährige Freundin – wussten von ihren Plänen und trugen sie mit.

«Wir legten das Datum etwa einen Monat im Voraus fest. Am Schlimmsten war die Wartezeit: Zu wissen, dass meine Mutter am Tag X sterben würde und dennoch den gewohnten Alltag zu leben, war für mich äusserst hart», erzählt Bettina Kläy.

«Am Schluss war es wirklich schön, ein friedlicher, würdiger Tod. Natürlich war ich unendlich traurig. Aber irgendwie fand ich es okay, sie hatte es so gewollt.»

Für die Tochter war es in dem Sinne kein Schock. «Es wäre für mich schwierig gewesen, wenn sie plötzlich ihre Meinung geändert hätte. Denn man geht diesen Weg gemeinsam und beginnt, sich darauf einzustellen.»

Zuerst wollte die Familie nur die engsten Angehörigen über die Todesumstände informieren. «Mein Bruder bestand aber darauf, allen die Wahrheit zu sagen – und das war gut so.»

Kläy war positiv überrascht, wie verständnisvoll die Leute reagierten. «Der eine oder die andere kam zu uns und erzählte über ähnliche Fälle aus ihrem Bekanntenkreis oder ihrer Familie. Freitod kommt wohl häufiger vor, als man denkt.»

Rund 1400 Menschen nehmen sich in der Schweiz pro Jahr das Leben, das sind dreimal mehr, als bei Verkehrsunfällen sterben.

Schätzungsweise 15’000 bis 25’000 Personen unternehmen in der Schweiz im Jahr einen Suizidversuch.

Die Sterbehilfe-Organisation Exit, die nur in der Schweiz ansässige Menschen betreut, begleitete 2011 insgesamt 416 Menschen in den Tod.

Dignitas, die zweite führende Sterbehilfe-Organisation der Schweiz, half 144 Menschen, ihr Leben zu beenden.

Die Schweizer Gesetzgebung lässt Sterbehilfe zu, wenn die Patienten urteilsfähig sind, selber handeln und die Begleiter kein persönliches Interesse an ihrem Tod haben. Beihilfe zum Suizid ist in der Schweiz seit den 1940er-Jahren erlaubt.

Der Tod wird in der Regel durch eine tödliche Dosis von Barbituraten herbeigeführt, welches von einem Arzt verschrieben wurde. Die Einnahme des Gifts, ob es nun getrunken wird, intravenös oder durch eine Magensonde in den Körper gelangt, muss von der sterbewilligen Person selber ausgeführt werden.

Gemäss einem Urteil des Bundesgerichts in Lausanne aus dem Jahr 2006 haben alle Personen das Recht, über ihren Tod zu bestimmen. Das gilt auch für Menschen mit psychischen Störungen.

Der Bundesrat prüfte verschiedene Möglichkeiten, um die Sterbehilfe zu regeln. Im Juni 2011 entschied er, keine Gesetzesänderungen vorzunehmen, sondern stattdessen die Suizidprävention sowie die Palliativmedizin zu fördern.

Schweiz:

Sehr liberale Praxis. Passive Euthanasie (Einstellen einer Therapie, Abstellen von Maschinen) nicht strafbar. Aktive Euthanasie gilt als Tötung und ist strafbar.

  

Deutschland: Suizidbeihilfe ist Ärzten untersagt. 

Frankreich: Passive Euthanasie ist Ärzten und Angehörigen  erlaubt, aktive Euthanasie aber weiterhin verboten.

Italien: Weder aktive noch passive Sterbehilfe sind erlaubt. 

Niederlande: Entscheid liegt bei den Ärzten, deshalb sehr restriktiver Einsatz. 

England: Restriktivste Regelung in Europa. Sterbehilfe ist gesetzlich untersagt. 

(Übertragung aus dem Englischen: Gaby Ochsenbein)

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