Menschen in der Schweiz wenden sich von Religion ab
Religion ist im Alltag der Menschen in der Schweiz nicht mehr wichtig. In der öffentlichen Diskussion aber spielt das Thema eine immer grössere Rolle. Diese Kluft zeigt eine grossangelegte Studie über die Bedeutung des Glaubens in der Schweiz.
Immer mehr Christen wenden sich sowohl von der protestantischen als auch der katholischen Landeskirche ab: Zwei Drittel von ihnen haben ein distanziertes Verhältnis zu ihrer Religion.
Dies ist eines der Resultate des Forschungsprogrammes «Religionsgemeinschaften, Staat und Gesellschaft» (NFP 58) des Schweizerischen Nationalfonds. Im Rahmen des jüngst abgeschlossenen Schwerpunktes haben Religionswissenschaftler in den letzten fünf Jahren insgesamt 28 Studien verfasst.
Einen Aderlass an Mitgliedern müssen aber auch andere Religionen hinnehmen. Dazu kommt, dass die verbleibenden Anhänger ein oberflächlicheres Verhältnis zu ihrer Kirche pflegen.
«Mehr als 60% der Bevölkerung in der Schweiz kann zu dieser ‹distanzierten› Gruppe gezählt werden», sagt Forschungsleiter Jörg Stolz von der Universität Lausanne gegenüber swissinfo.ch.
«Ich würde sie als ‹Ich bin katholisch, aber…› und ‹Ich bin protestantisch, aber…› bezeichnen. Das ‹aber› besagt, dass sie den Glauben nicht praktizieren oder dass er in ihrem Leben nicht zentral ist.»
Die Angehörigen dieser Gruppen würden sich aber auch von einem reinen Atheismus distanzieren, relativiert Stolz. «Sie glauben an eine höhere Macht, ohne sich aber Gedanken darüber zu machen, welche Form diese Macht annehmen könnte.»
Die zahlenmässige Stärke der «Distanzierten», immerhin knapp zwei Drittel, entspreche in etwa derjenigen in anderen westlichen Ländern, sagt der Religionssoziologe weiter.
Wahre Gläubige
Auch «distanzierte» Schweizer Christen heben die soziale und kulturelle Bedeutung der traditionellen Landeskirchen hervor. Zu einer vollständigen Trennung von Kirche und Staat äussern sie sich denn auch skeptisch.
Nichtsdestotrotz schreitet die Säkularisierung der Gesellschaft voran.
Institutionen wie Schulen, Lehrerseminare oder Pflegeheime, die früher einen religiösen Hintergrund hatten, haben sich heute von diesem losgelöst.
Als echte Anhänger des Glaubens bezeichnen sich in der Schweiz noch 23% der Katholiken und 15% der Protestanten.
Der Trend, dass Menschen den Landeskirchen den Rücken kehren, werde weiter anhalten, sagt Jörg Stolz. «Jede Generation war weniger religiös als die vorhergehende, deshalb gehen wir davon aus, dass die Zahl der Katholiken und Protestanten weiter sinken wird.»
Was aber steckt hinter dieser Abkehr? «Der Hauptgrund, den die Menschen angeben, ist ganz einfach der, dass Religion sie nicht mehr kümmert. Sie haben keine Beziehung mehr zur Kirche und entfernen sich von ihr», erklärt der Experte.
Dazu kommt Unzufriedenheit oder gar Wut. «Vor allem Katholiken sind wütend auf den Papst und die bestehenden Hierarchien. Deshalb sind sie nicht mehr bereit, die traditionellen Normen innerhalb der römischen Kirche zu akzeptieren.»
Als drittes nennt Stolz den finanziellen Aspekt, sprich die Kirchensteuer. «Aber darüber wird nicht gerne gesprochen, denn es herrscht die Auffassung, dass man nicht wegen des Geldes aus der Kirche austreten sollte.»
Konfliktpotenzial
Christoph Bochinger, Präsident der Leitungsgruppe des NFP 58, bringt eine weitere Erkenntnis ins Spiel: Die Konvergenz, welche die Forscher im gesamten religiösen Spektrum ausmachten.
«Die Liberalen aller Religionen nähern sich einander immer mehr an, dasselbe gilt auch für die Konservativen. In einigen Fällen unterstützen sie einander gar», sagt der Professor an der deutschen Universität Bayreuth.
Ein weiteres Forschungsergebnis ist die verbreitete Auffassung, dass Religion in die Privatsphäre gehöre. Extremistische Tendenzen sowie Missionierung werden deshalb als inakzeptabel aufgefasst. Jede zehnte Person in der Schweiz glaubt an alternative Formen der Spiritualität.
Im Graben zwischen sehr religiösen Menschen und prononcierten Befürworten einer strikten Trennung von Kirche und Staat sieht Bochinger ein gewisses Konfliktpotenzial. «Es ist deshalb sehr wichtig, unter den verschiedenen Gruppen den gegenseitigen Respekt zu fördern», sagt er.
Hirngespinst Islamisierung
2010 waren 4,5% der Bevölkerung in der Schweiz Muslime. «Die muslimische Gemeinde, wenn man überhaupt von einer solchen sprechen kann, ist sehr heterogen», sagt Jörg Stolz. «Die grössten Unterschiede sind ethnisch begründet, entsprechend den Herkunftsländern Türkei, Bosnien oder den Maghreb-Staaten.»
Sehr oft funktionierten muslimische Gemeinden gleichzeitig auch als kulturelle Gruppen, für welche die Bewahrung der Traditionen sehr wichtig sei, fährt Stolz fort.
Ende 2009 votierten 57% der Schweizer Stimmbevölkerung für ein Bauverbot für Minarette. Damit brachten sie eine gewisse Skepsis gegenüber der religiösen Minderheit der Muslime zum Ausdruck.
«Menschen hegen oft die Befürchtung, dass es einen Block gibt, der enorm anwachsen und eine Islamisierung bewirken könnte. Aber nichts ist weiter von der Realität entfernt als eine solche Vorstellung», sagt Jörg Stolz. Denn die Tendenz zur Säkularisierung sei auch bei jungen Muslimen festellbar.
Trotz der Verdrängung der Religion aus dem Alltag werde Religion von Medien und Politikern gern benutzt, um auf Unterschiede hinzuweisen, so Christoph Bochinger. Dies sei sogar auf Schulhöfen der Fall.
Anzeichen für die Bildung von Parallelgesellschaften hat er aber unter den Religionen, die Einwanderer in die Schweiz brachten, keine festgestellt.
«Dies war eines der Ergebnisse, das uns am meisten überrascht hat», berichtet Bochinger. «Viele dieser Einwanderer legen ein grosses Vertrauen in die Schweizer Behörden an den Tag, sie hoffen, dass der Staat ihnen bei der Integration in die Schweizer Gesellschaft hilft.»
Im Rahmen des Nationalen Forschungsprogrammes «Religionsgemeinschaften, Staat und Gesellschaft» wurden in den letzten fünf Jahren 28 Projekte zur Erfassung der religiösen Landschaft in der Schweiz verfasst.
Religion ist im Alltag der Einzelnen nicht mehr sehr wichtig, lautet ein zentrales Ergebnis der gross angelegten Studie.
Die Forscher befassten sich insbesondere mit den Veränderungen im Bereich der Religionen, die in der Schweiz zu einem gesellschaftlichen und politischen Thema geworden sind.
Ebenso unterbreiteten sie Vorschläge, wie die problematischen Beziehungen zwischen Staat und Religionsgruppen verbessert werden könnten.
Das NFP 58 verfügte über ein Budget von 10 Mio. Franken, rund 135 Forscherinnen und Forscher waren beteiligt. Das Schlussergebnis wurde Anfang Juli 2012 präsentiert.
Die Wissenschaftler zählten insgesamt 5734 religiöse Gruppen und Gemeinschaften in der Schweiz.
Verteilung 2010 (Veränderung gegenüber 2000):
römisch-katholisch: 38.8% (-3,7 Prozentpunkte)
protestantisch: 30,9% (-3.2)
ohne Religion: 20,1% (+ 8.9)
muslimisch: 4,5% (+0.9)
jüdisch: 0,2% (unverändert)
andere: 5%
(Quelle: Bundesamt für Statistik)
(Übertragung aus dem Englischen: Renat Kuenzi)
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