Migrantenjugendliche «made in Switzerland»
Die Religion spielt bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund in der Schweiz eine wichtige Rolle bei der Bildung ihrer Identität. Dies zeigt ein neues Buch, "Jugend, Migration und Religion", das an der Universität Luzern präsentiert wurde.
Sowohl in der Schweiz wie in anderen westlichen Ländern hat sich der öffentliche Diskurs über Zugewanderte verändert. Türken, Marokkaner und Kosovo-Albaner werden heute pauschal als Muslime etikettiert. Der Islam ist zur Religion der Anderen geworden. Katholische Albaner oder Kopten aus Ägypten weisen gerne darauf hin, dass sie Christen sind, um das Gemeinsame ihres Herkunftslandes und der Schweiz zu betonen.
Das Forschungsprojekt, das dem Buch «Jugend, Migration und Religion» zugrunde liegt, ist von der aufgeheizten Diskussion über den Islam ausgegangen mit der Absicht, zu entdramatisieren und gleichzeitig die Religion in der sozialen Dynamik der Gesellschaft ernst zu nehmen, wie die Herausgeberinnen am Werkstattgespräch zur Buchpräsentation am Zentrum für Religionsforschung der Universität Luzern erklären.
Die Religion ist für Jugendliche der zweiten Migrationsgeneration ein wichtiger Faktor bei der Identitätsfindung, aber nicht der einzige. «Je nach Situation benutzen Migrationsjugendliche nationale, religiöse oder ethnische Kategorien, um sich abzugrenzen oder zugehörig zu zeigen», sagt die Ethnologin Brigit Allenbach, eine der Buchautorinnen, gegenüber swissinfo.ch.
Junge Secondos als Brückenbauer
Die Jugendlichen würden nicht nur von ihrer Herkunft geprägt, sondern ebenso von der Schweizer Gesellschaft, in der sie aufwachsen, seien also weitgehend «made in Switzerland», sagt Allenbach.
Die Ethnologin hat bei ihrer Forschung über Secondos und Secondas aus Südosteuropa festgestellt, dass sich die Jugendlichen gleichzeitig der Schweizer Gesellschaft wie ihrer Herkunftstradition verbunden fühlen und sich selbstverständlich in und zwischen verschiedenen Milieus bewegen. Am Beispiel des 21-jährigen Sami, Sohn eines aus Mazedonien eingewanderten Saisonniers, wird deutlich, wie Jugendliche eine Brückenfunktion zwischen ihren Eltern und der Schweiz übernehmen.
Minderheit in der Minderheit
Für die Partnerwahl spielt die Religion eine grosse Rolle, sowohl bei bosnischen Muslimen wie auch bei katholischen albanischen Jugendlichen. Dieses Phänomen erklärt die Ethnologin und Kulturwissenschafterin Cordula Weissköppel mit dem Gefühl der Gefährdung von Minderheiten in einer Mehrheitsgesellschaft.
Weissköppel hat die Sozialisation von koptischen Jugendlichen in der Schweiz untersucht. Kopten heissen die Christen in Ägypten, die dort rund 13% der Bevölkerung ausmachen. Sie verstehen sich als Urchristen und mussten sich immer gegen Fremdherrschaft und, seit der arabischen Besiedlung und Islamisierung Ägyptens, gegen die muslimische Mehrheit behaupten. In der Schweiz sind sie als Kopten eine Minderheit in der Minderheit.
Die koptischen Jugendlichen in der Schweiz entstammen meist binationalen Beziehungen und haben einen ägyptischen Vater und eine Schweizer Mutter. «Während die Schweizer Identität der Mutter von den jungen Kopten gar nicht thematisiert wurde, stellte die ägyptische Identität des Vaters für die Jugendlichen im Einwanderungsland Schweiz ein Problem dar, mit dem sie sich auseinandersetzen und arrangieren mussten», sagt Weissköppel über ihre Gespräche.
Tabu voreheliche Sexualität
In ihrem Bemühen, die Väter zu verstehen und emotional aufgeheizte Konflikte zu entschärfen, hätten sich die Jugendlichen auf die Strategie verlegt, die ägyptische Kultur als Ursache der Konflikte zu betrachten, erklärt die Forscherin. Dabei würden sie zahlreiche väterliche Tabus übernehmen, auch das der vorehelichen Sexualität.
Dass an diesem Tabu bis heute festgehalten wird, führt Weissköppel auf eine kollektive Überlebensstrategie der Kopten als Minderheit zurück. Mit dem Tabu soll verhindert werden, dass Koptinnen Mitglieder anderer Religionsgruppen heiraten: «Es geht um den (reproduktiven) Fortbestand der Kopten als ethno-religiös homogene Gruppe.»
Das Zentrum für Religion, Wirtschaft und Politik (ZRWP) beschäftigt sich interdisziplinär mit der Untersuchung von Religion und ihren Wechselwirkungen mit Wirtschaft und Politik. Es ist ein gemeinsames Projekt der Universitäten Basel, Lausanne, Luzern und Zürich und des Collegium Helveticum.
Seit 2010 publiziert das ZRWP die Buchreihe «Religion – Wirtschaft – Politik», zuletzt das von Brigit Allenbach, Urmila Goel, Merle Hummrich und Cordula Weissköppel herausgegebene Buch «Jugend, Migration und Religion. Interdisziplinäre Perspektiven» im Nomos Verlag.
Die Beiträge gehen auf ein Forschungsprojekt der Jacobs Summer Research Group in den Jahren 2008 und 2009 an der Universität Zürich zurück und beschäftigen sich mit Fragen nach der Religiosität im Alltag von Jugendlichen, mit natio-ethno-kultureller Mehrfachzugehörigkeit, Religion im Kontext von Grenzziehungen und der Reflexion des Redens über die Zusammenhänge von Religion, Migration und Jugend.
In der Schweiz leben zwischen 350’000 und 400’000 Muslime. Rund die Hälfte von ihnen kommt aus den Nachfolgestaaten Jugoslawiens.
10% der 200’000 Albanerinnen und Albaner in der Schweiz sind römisch-katholisch.
Rund 1000 Kopten (ägyptische Christen) leben in der Schweiz.
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