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«Europa versucht seit 30 Jahren, Asylverfahren zu beschleunigen»

Grenzkontrolle
Griechische Polizisten kontrollieren Flüchtlinge an der Grenze zu Nordmazedonien. Keystone / Nikos Arvanitidis

Vor eineinhalb Jahren hat die Schweiz ein neues Asylsystem eingeführt. Damit können Asylgesuche rascher behandelt werden. Dieser Wunsch, die Verfahren zu beschleunigen, nehme in Europa seit längerer Zeit zu, sagt die Migrationsspezialistin Virginie Guiraudon.

Verbesserung der Prüfung von Asylsuchenden und Beschleunigung der Asylverfahren zwecks rascherer Integration oder Rückweisung: Das sind die Eckpfeiler des neuen Schweizer Asylsystems, in Kraft seit März 2019.

Seitdem reisst die Kritik nicht ab: Die Gründe und der Gesundheitszustand der Asylsuchenden würden nicht genügend abgeklärt, die Rekursfristen seien zu kurz und die Triage münde zu oft in ein Schnellverfahren.

Die Behörden ihrerseits haben Anpassungen am System vorgenommen. Doch im Allgemeinen sind sie überzeugt: Der Prozess funktioniert.

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Dieser Wunsch, die Prüfung von Asylanträgen zu beschleunigen, ist nichts Neues. Die meisten europäischen Länder versuchen seit langer Zeit, ihre Verfahren zu beschleunigen. Dies ist auch eines der Ziele des «Neuen Migrations- und Asyl-Pakets»Externer Link (Migrationspakt), über das derzeit innerhalb der Europäischen Union verhandelt wird.

Die Wirksamkeit dieses Prinzips sei jedoch fraglich, sagt Virginie GuiraudonExterner Link, Forschungsdirektorin am Zentrum für Europäische Studien und Vergleichende Politikwissenschaft (Sciences Po) in Paris.

swissinfo.ch: Die Schweiz hat ein neues System zur Bearbeitung von Asylgesuchen eingeführt, um die Verfahren zu beschleunigen. Haben andere europäische Länder das Gleiche getan?

Lächelnde Frau
Virginie Guiraudon ist Forschungsdirektorin am Zentrum für Europastudien und vergleichende Politikwissenschaft an der Sciences Po in Paris. Virginie Guiraudon

Virginie Guiraudon: Es ist wirklich seit sehr langer Zeit ein zunehmender Wunsch. In Europa haben wir bereits vor der Unterzeichnung der Dubliner Abkommen im Jahr 1990 über beschleunigte Verfahren gesprochen.

In Frankreich trat 2015 eine Reform in Kraft. Dann wurde das Gesetz nach der Wahl von Emmanuel Macron zum Präsidenten erneut abgeändert. Immer mit der Idee, mehrere Wege zu schaffen: ein Schnellverfahren und ein «normales» Verfahren.

Die Idee, dass es «sichere Länder» und «offensichtlich unbegründete Anträge» gibt, ist bereits im ursprünglichen Dubliner Vertrag enthalten. Deshalb würde ich sagen, dass die europäischen Länder seit 30 Jahren versuchen, die Verfahren zu beschleunigen.

Aber diese Triage trägt nicht wirklich dazu bei, Rückschaffungen zu beschleunigen. Der Moment, in dem der Person das Asyl verweigert wird, mag zwar schneller da sein, aber es ist für alle Staaten schwierig, einen Passierschein des Herkunftslands zu erhalten, um die Abschiebung durchführen zu können.

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Werden diese Reformen, die auf eine Beschleunigung der Verfahren abzielen, auch in anderen europäischen Ländern von Experten und Organisationen kritisiert?

Ja, und diese Kritiken werden auch durch qualitative Studien erhärtet. Es gibt in der Tat einen zweifachen perversen Effekt: Mit weniger verfügbarer Zeit werden die Geschichten der Asylsuchenden standardisiert, um den Erwartungen der Beamten gerecht zu werden, welche die Anträge prüfen.

Diese Beamten nehmen auch «Abkürzungen», um zu bestimmen, ob eine Person in eine «Schublade» passt oder nicht. Denn Beschleunigung bedeutet, dass die Geschichte nicht im Detail untersucht und nicht nach zusätzlichen Informationen gesucht wird, sondern dass die Verfahren standardisiert werden.

Ist diese Beschleunigung auch ein Ziel des neuen Europäischen Migrationspakts, über den derzeit verhandelt wird?

Absolut. Die Idee ist, dass Asylsuchende registriert, ihre Fingerabdrücke abgenommen und sie entweder per Schnellverfahren abgeschoben oder zur Stellung eines Asylantrags in ein anderes europäisches Land übersiedelt werden. Es steht schwarz auf weiss geschrieben, dass die Abschiebungen sehr schnell durchgeführt werden müssen, innert weniger Monate. Aber wir wissen nicht, wie dies möglich sein soll.

Der Pakt sieht auch die Triage der Personen vor, indem die Anträge nicht mehr einzeln, sondern nach ihrer Staatsangehörigkeit geprüft werden sollen. Personen, deren Nationalitäten in den Asylverfahren der verschiedenen Länder wenig Erfolg haben, werden an der Grenze in ein beschleunigtes Verfahren eingeteilt.

Diese Selektion erscheint mir jedoch äusserst komplex, da sich die Anerkennungsraten jedes Jahr ändern und die Standards für die Asylgewährung von Land zu Land unterschiedlich sind.

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Die Einstufung der Menschen nach ihrer Nationalität ist in jedem Fall sehr problematisch. Ich denke zum Beispiel an politische Gegner oder an die geschlechtsspezifische Verfolgung, die in einigen Staaten zunimmt, die vielleicht keine Diktaturen sind, aber in denen bestimmte Bevölkerungsgruppen ins Exil gezwungen werden.

Ich frage mich auch, wie diese Prozeduren an der Grenze die Situation verbessern sollen. In Griechenland zum Beispiel leben Flüchtlinge seit Jahren, ohne dass ihr Status geklärt ist. Sie werden nicht in ein anderes europäisches Land umgesiedelt, aber sie werden auch nicht nach Hause geschickt, also bleiben sie einfach in diesen Lagern.

Befürchten Sie, dass dieser neue Pakt zur Bildung grosser Lager an den Grenzen Europas führen wird?

Genau das sollte der Pakt regeln, aber der mehrere hundert Seiten umfassende Text ist ein Meisterwerk des bürokratischen Jargons. Es ist nicht klar, wie die Vorschläge des Pakts die Frage der Menschen in der Warteschlaufe regeln sollen.

Es wird notwendig sein, dass genügend europäische Länder Umplatzierungen akzeptieren. Und es muss eine Lösung für die Abschiebungen gefunden werden. Denn derzeit stimmen einige Staaten der Rücknahme ihrer Staatsangehörigen zu, während andere sich sträuben.

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Besteht bei diesem neuen Pakt der Wunsch, die Prüfung von Asylanträgen an die Aussengrenzen Europas zu verlagern?

Es gibt sogar eine Idee von Deutschland, das bis Ende des Jahres die Präsidentschaft der Europäischen Union innehat: Demnach sollten sich die Registrierungszentren ausserhalb Europas befinden, weiter südlich, auf der anderen Seite des Mittelmeers.

Welche Rolle kann die Schweiz in den Verhandlungen über den Neuen Europäischen Migrationspakt spielen?

Die Schweiz ist eines der Gründungsländer des ganzen Systems. Sie hat sich von Beginn weg an den Diskussionen beteiligt und seit den 1990er-Jahren zahlreiche Regierungskonferenzen zum Thema Asyl initiiert.

Obwohl sie nicht Mitglied der Europäischen Union ist, spielt sie eine Schlüsselrolle und engagiert sich auch in internationalen Think Tanks und der Internationalen Organisation für Migration. Obwohl die Schweiz an den laufenden Verhandlungen nicht direkt beteiligt ist, sind ihre Interessen und ihre Philosophie sehr gut vertreten.

(Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub)

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