Schweiz bestraft Personen, die den Sans-Papiers helfen
Einem Sans-Papier Essen, etwas Geld oder ein Bett zu geben, ist in der Schweiz illegal. Hunderte von Menschen werden jedes Jahr wegen Verletzung des Ausländergesetzes verurteilt. Religionsgemeinschaften, Verbände und Politiker fordern eine Anpassung des Gesetzes, um "Solidaritätsdelikte" auszuschliessen.
Am Sonntag, 12. Februar 2017, hält Pfarrer Norbert Valley in der Evangelischen Kirche des Arc Jurassien in Le Locle eine Predigt. Seine Kollegen machen ihn plötzlich auf die Anwesenheit von Polizisten am Eingang zum Gotteshaus aufmerksam. Er hält inne, geht auf die Polizisten zu und erfährt, dass er diesen zur Einvernahme auf den Polizeiposten folgen muss: Norbert Valley steht im Verdacht, das Ausländergesetz verletzt zu haben.
116 Abs. 1a des AusländergesetzesExterner Link
«Wer im In- und Ausland einer Ausländerin oder einem Ausländer die rechtswidrige Ein- oder Ausreise oder den rechtswidrigen Aufenthalt in der Schweiz erleichtert oder vorbereiten hilft, wird eine Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr oder eine Geldstrafe auferlegt.»
Im August 2018 erhielt der Pfarrer einen Strafbefehl, der ihn zu einer bedingten Geldstrafe von 1000 Franken und zur Übernahme der Gerichtskosten von 250 Franken verurteilt. Sein Delikt: einem Mitglied der Kirchgemeinschaft, einem Asylbewerber, dessen Antrag gerade abgelehnt wurde und der sich in einer äusserst prekären Situation befand, Unterschlupf gewährt zu haben. Norbert Valley hat gegen diese Verurteilung Berufung eingelegt. Am Donnerstag wird er in einer Voruntersuchung in Neuenburg von der Staatsanwaltschaft angehört. Er ist gewillt, seinen Fall nötigenfalls an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu bringen.
785 Verurteilungen
Die Geschichte des Neuenburger Pfarrers ist kein Einzelfall. Seit der Revision des Ausländergesetzes im Jahr 2008 ist die Hilfe für Sans-Papiers illegal geworden, auch wenn das Motiv durchaus ehrenhaft ist. Mehrere Fälle wurden bekannt: Die Tessiner Politikerin Lisa Bosia Mirra wurde 2017 verurteilt, weil sie mithalf, unbegleitete Minderjährige in die Schweiz zu führen. Anni LanzExterner Link aus Basel wurde im vergangenen Dezember bestraft, nachdem sie einen kranken Asylbewerber aus Italien zurück in die Schweiz gebracht hatte, der dort gezwungen war, auf der Strasse zu schlafen. Flavie BettexExterner Link aus dem Kanton Waadt wurde von den kantonalen Behörden mit einer Geldstrafe gebüsst, weil sie mit dem Einverständnis der Behörden einem Asylbewerber Unterschlupf gewährte hatte. Letztere wurde schliesslich freigesprochen.
Über eine Vielzahl ähnlicher Fälle ist wenig bekannt. Gemäss ZahlenExterner Link des Bundesamts für Statistik wurden 2017 insgesamt 785 Personen wegen so genannten «Erleichterungshandlungen» zugunsten einer illegalen Ein- oder Ausreise oder eines Aufenthalts eines Ausländers verurteilt. In den KantonenExterner Link Waadt (113), Tessin (91) und Basel-Stadt (85) ist die Zahl der Verurteilungen besonders hoch. Nicht bekannt ist, ob die wegen Verletzung des Ausländergesetzes Verurteilten aus gewinnbringenden oder humanitären Gründen handelten. Nur sehr wenige ziehen ihren Fall nach der Verurteilung an eine höhere Instanz.
Manche befürchten Repressalien, andere haben die Mittel dafür nicht. Gerichtsverfahren sind teuer, Pfarrer Valley hatte bereits mehrere tausend Franken bezahlen müssen, bevor die erste Anhörung überhaupt stattfand. Er erhielt finanzielle Unterstützung von anderen Religionsgemeinschaften und Amnesty International. Die NGO ruft zur Teilnahme an einer Solidaritätskundgebung am Donnerstagmorgen vor der Stiftskirche Neuenburg auf.
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«Einen Akt der Solidarität zu kriminalisieren, ist absurd und zeigt, wie weit die Behörden zu gehen bereit sind, um humanitäres Engagement zu bremsen», erklärt Amnesty InternationalExterner Link (AI). AI und «Solidarité sans frontièresExterner Link» haben eine Petition zuhanden der eidgenössischen Parlamentarier lanciert, mit der diese aufgefordert werden, das Ausländergesetz zu ändern. Eine parlamentarische InitiativeExterner Link von Lisa Mazzone, Nationalrätin der Grünen Partei, schlägt eine Gesetzesanpassung vor, wonach Hilfeleistungen aus ehrenhaften Gründen nicht bestraft werden sollen.
Die Schweiz ist eines der Länder, die mit Personen, welche den Sans-Papiers helfen, besonders hartExterner Link ins Gericht gehen. Ihre Praktiken ähneln jenen von Rumänien, Bulgarien, Lettland und Dänemark. Viele europäische Staaten wie Belgien, Italien und Grossbritannien sind hingegen der Ansicht, dass Personen, die aus vorwiegend humanitären Gründen handeln, nicht bestraft werden sollten. Frankreich hat vor kurzem seine Meinung geändert, nachdem eine Bürgerbewegung dagegen protestiert hatte, dass Solidarität mit Migranten bestraft wird. Der VerfassungsratExterner Link hat im vergangenen Sommer schliesslich entschieden, dass uneigennützige Hilfe bei illegalem Aufenthalt nicht mehr strafrechtlich verfolgt werden darf.
Auf internationaler Ebene hält das ProtokollExterner Link der Vereinten Nationen (UN) gegen die Schleusung von Migranten fest, dass nur eine Straftat vorliegt, wenn die Handlungen zum Zweck der Erlangung eines materiellen oder finanziellen Nutzens begangen wurden. Andererseits lässt die europäische Richtlinie zur Definition der Beihilfe zur illegalen Einreise, Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt den Staaten die Freiheit, humanitäre Handlungen zu ahnden oder nicht. Amnesty International empfiehlt der Europäischen Kommission eine Reform ihrer Gesetzgebung.
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