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Missbrauch verjährt nicht mehr

Reuters

Schwerer sexueller Missbrauch von Kindern unter 12 Jahren ist in der Schweiz nicht mehr verjährbar. Eine entsprechende Gesetzesänderung ist am 1. Januar in Kraft getreten. Sie gilt auch für Straftaten, die am 30. November 2008 noch nicht verjährt waren.

Damit wird die Unverjährbarkeitsinitiative, die 52% der Stimmberechtigten am 30. November 2008 gegen den Willen von Bundesrat und Parlament gutgeheissen haben, umgesetzt. Das Parlament hat die Gesetzesänderung am 15. Juni 2012 verabschiedet. Da kein Referendum dagegen ergriffen wurde, trat sie am 1. Januar in Kraft.

Die Initiative wurde von besorgten Eltern lanciert. Ihre konkrete Umsetzung hat nun einige Jahre Zeit gebraucht, denn vor allem die genaue Definition der Straftaten und auch die Frage, wie alt die Opfer höchstens sein dürfen, damit eine Tat an ihnen als unverjährbar gilt, waren Gegenstand von Diskussionen unter Juristen und Politikern.

Bisher galten in der Schweiz lediglich Verbrechen an der Menschlichkeit und Genozid als unverjährbar. Für Mord gilt eine Unverjährbarkeit von 30 Jahren.

Zeitfaktor entscheidend

«Sexueller Missbrauch ist in meinen Augen ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Es ist das Schlimmste, was ein Mensch tun kann, denn ein Kind kann sich nicht wehren», sagt Oskar Freysinger, Nationalrat der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP) gegenüber swissinfo.ch. «Ich stelle mich auf die Seite der Opfer, die ein Recht auf eine psychologische Wiedergutmachung haben sollten, auch wenn die Tat 30 Jahre zurück liegt.»

Die Gegner der Unverjährbarkeit argumentierten, sie bringe nicht zwangsläufig mehr Täter vor die Justiz. Die damalige Justizministerin Eveline Widmer-Schlumpf erklärte, dass die Gefahr bestehe, dass die Opfer «enttäuscht und noch einmal traumatisiert» werden könnten. Die Regierung wollte die Verjährbarkeit auf 15 Jahre beschränken, nachdem das Opfer das Volljährigkeitsalter von 18 Jahren erreicht hat.

Rechtsexperten sind nicht überzeugt, dass die Gesetzesänderung zu mehr Verurteilungen führen wird. Laut dem Staatsanwalt des Kantons Zürich, Markus Oertle, ist die Unverjährbarkeit ein falsches Signal an die Adresse der Opfer. «Sie kann dazu verleiten, mit einer Klage zuzuwarten. Doch für eine erfolgversprechende strafrechtliche Verfolgung ist es immens wichtig, dass zwischen der Tat und der Klage möglichst wenig Zeit verstreicht», sagt Oertle gegenüber swissinfo.ch.

Der grundsätzliche Sinn der Verjährbarkeit bestehe auch darin, «unnötige Strafverfahren» einzuleiten, nämlich all jene, die kaum eine Chance auf einen Erfolg haben, weil sie so lange zurückliegen, dass eine erfolgreiche Beweisführung kaum mehr möglich sei.

Das Ausmass sexueller Ausbeutung von Kindern ist in absoluten Zahlen nicht bekannt. Die Dunkelziffer solcher Delikte ist sehr hoch.

Heute wird angenommen, jede dritte bis vierte Frau und jeder siebte bis zehnte Mann habe in seiner Kindheit sexuelle Ausbeutung erlebt. Darin eingerechnet sind auch einmalige Übergriffe und solche ohne Körperkontakt, wie etwa exhibitionistische Handlungen.

Etwa zwei Drittel der Betroffenen sind Mädchen, ein Drittel Jungen. Am häufigsten betroffen sind Mädchen und Jungen im Alter von etwa sieben bis zwölf Jahren.

Ein Teil dieser Kinder und Jugendlichen erlebt diese Form von Gewalt nur einmal. Die anderen Mädchen und Jungen müssen sexuelle Ausbeutung wiederholt erdulden, manchmal über Jahre hinweg. Dies ist umso eher der Fall, je näher der Täter oder die Täterin einem Opfer steht.

(Quelle: Kinderschutz Schweiz)

Vergangenheit ausgeschlossen

Oertle geht nicht davon aus, dass das Justizsystem im nächsten Jahr mit neuen Fällen überladen wird. «Die Gesetzesänderung wird erst nach einer gewissen Zeit gewisse Auswirkungen haben, weil sie lediglich bis zum 1. November 2008 eine rückwirkende Wirkung hat. Tatbestände, die vor diesem Datum verübt wurden, gelten weiterhin als verjährt.»

Das bedeutet, dass die Fälle sexueller Ausbeutung in kirchlichen und staatlichen Institutionen, die erst jetzt an die Öffentlichkeit kommen, gerichtlich ungesühnt bleiben werden. Kürzlich hat eine Untersuchung im Kanton Luzern für Aufsehen gesorgt, weil rund die Hälfte der befragten ehemaligen Insassen von Institutionen aussagten, sie seien zwischen 1930 und 1970 Opfer von sexuellen Übergriffen geworden. Diese Fälle werden strafrechtlich nie untersucht werden, weil sie verjährt sind.

Ende des Familienlebens

2011 wurden in der Schweiz laut dem Bundesamt für Statistik 1403 Personen wegen sexuellen Aktivitäten mit Kindern beschuldigt. Die Dunkelziffer wird von Fachleuten als hoch eingeschätzt.

Die Schweizer Autorin Iris Galey, die jahrelang von ihrem Vater missbraucht wurde und 1981 ein Buch über diese Erfahrungen publiziert hatte, sprach sich im Abstimmungskampf für die Initiative aus.

«Viele Täter kommen mit einem blauen Auge davon, während die Opfer das ganze Leben lang gestraft bleiben. Es trifft die Opfer hart, vor allem auch in ihren Beziehungen», sagt Galey gegenüber swissinfo.ch.

Galeys Vater nahm sich das Leben, nachdem seine Tochter den Missbrauch öffentlich gemacht hatte. Damals war sie 14 Jahre alt. Ihre Mutter glaubte ihr die Vorwürfe nicht. Das bedeutete das Ende ihres Familienlebens.

Es geht um Fairness

«Mit 14 wurde ich von Zuhause weggeschickt. Eine Polizistin glaubte mir zwar, aber niemand hat jemals mit mir über den Missbrauch oder den Suizid gesprochen. Ich habe mich nie von den Ereignissen erholt», erzählt Galey.

«Bei der Unverjährbarkeit geht es um Fairness und darum, dass man den Opfern glaubt. Auf der andern Seite müssen die Täter der Wahrheit ins Auge schauen, bevor sie sterben.»

(Übertragung aus dem Englischen: Andreas Keiser)

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