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«Mit 12 Jahren fühlte ich mich als nicht normal»

Zuschauer und Beteiligte an der Gaypride 2012 in Zürich. Thomas Kern / swissinfo.ch

In den letzten Jahren ist die Haltung der Gesellschaft in der Schweiz gegenüber der Homosexualität offener geworden. Dennoch bleibt das Entdecken und Akzeptieren der eigenen Homosexualität für Junge äusserst schwierig. Zeugnis eines Betroffenen.

«In der Schweiz wird heute oft gesagt, dass Homophobie kein Problem mehr sei, dass man als Homosexueller unbeschwert leben könne. Das Gegenteil ist jedoch wahr. Versuchen Sie einfach mal, Hand in Hand mit ihrem Freund durch die Stadt zu laufen. Spüren Sie die Blicke?»

Hakim (Name von der Red. geändert) schildert seine Erfahrungen als Homosexueller den Schülerinnen und Schülern in einer Klasse der Berufsschule für das Gesundheitswesen in St. Imier, Kanton Bern.

Hakim ist noch nicht 16-jährig. Er spricht viel, präzis und schnell. Er steht nicht vor der Klasse, um die jungen Leute zur Homosexualität zu konvertieren. Er spricht hier, weil er sehr froh gewesen wäre, wenn jemand in seiner Klasse dasselbe getan hätte, als er noch jünger war. Hakim ist einer, den einige als «Schwuchtel» oder als «Tunte» bezeichnen – der Mensch ist erfinderisch, wenn es darum geht, jemanden mit entwürdigenden Ausdrücken zu kränken.

«Schämst du dich nicht?»

Hakim wurde in einem Land im Nahen Osten geboren und kam im Alter von sieben Jahren in die Schweiz. Als er 10-, 11-jährig war, begann er sich Fragen über seine sexuelle Orientierung zu stellen.

«Meine Kameraden hatten jetzt langsam alle Freundinnen. Ich wollte dies auch, doch habe ich sofort gemerkt, dass da etwas war, was nicht ging. Doch ich wusste nicht, was. Niemand hatte mit mir jemals über Homosexualität gesprochen. Als ich 12 Jahre alt wurde, ging es mir wirklich sehr schlecht. Ich fühlte mich als nicht normal, ich dachte, ich sei pädophil.»

Der entscheidende Wendepunkt erfolgte mit 13 Jahren. An einem Konzert macht eine Kollegin Hakim darauf aufmerksam, wie schön die Sängerin sei. Darauf sagt er, auch der Musiker sehe nicht schlecht aus.

«Weiss es dein Bruder?», fragt sie ihn. Hakim: «Was denn?», fragt er sie. «Dass du homosexuell bist.» Da habe er sich zu fragen begonnen, was das bedeute.

«Sie sagte mir, ihr würden junge Frauen gefallen, es seien viele Personen so wie sie, und man brauche sich dafür überhaupt nicht zu schämen. Von einem Tag auf den anderen wurde mir bewusst, dass ich nicht abnormal bin. In den nächsten Monaten habe ich begonnen, mit meinen Freunden darüber zu reden.»

In kurzer Zeit war die ganze Schule auf dem Laufenden. Dann hagelte es Bemerkungen: «Schämst du dich nicht?» Oder: «Hast du es deiner Familie gesagt?» Hakim hält nur dank seiner engsten Freunde und besonders Freundinnen durch, die ihn unterstützen. Nach rund einem Jahr normalisiert sich mehr oder weniger wieder alles.

Eine Sache betont Hakim immer wieder: Ein «Coming out» zu machen sei schon schwierig, noch viel schwieriger aber die Zwischenstation des «Coming in», das heisst die eigene Homosexualität selber zu akzeptieren.

«Ich habe einen starken Charakter und habe deshalb nicht so sehr gelitten. Aber nicht alle sind wie ich. Das Problem sind nicht so sehr die verbalen oder physischen Angriffe, sondern vielmehr die Tatsache, dass man diese Homophobie verinnerlicht», sagt er

Dies könne so stark sein, «dass man sich selbst immer wieder ‹hässliche Schwuchtel› sagen hört. Man beginnt zu glauben, dass man das wirklich ist. Es ist kein Zufall, dass einer von vier Suizidversuchen von jungen Menschen im Zusammenhang mit der sexuellen Orientierung begangen wird».

Der Zeit ihren Lauf lassen

In der Familie, die muslimischen Glaubens ist, geht es ähnlich zu und her. «Als ich es meiner Mutter sagte, zitterte ich, wie wenn ich einen epileptischen Anfall gehabt hätte. Sie antwortete mir, sie habe mich weiterhin gern, ich solle mir keine Sorgen machen, das sei nur eine Phase des Jünglingsalters», erzählt Hakim.

Mit den beiden Schwestern geht alles mehr oder weniger glatt über die Bühne. Nicht so mit einem seiner Brüder. «Er hat mich bedroht, manchmal sogar mit dem Tod», sagt er ohne Animosität.

Als Hakim 15 Jahre alt ist, sieht seine Mutter zum ersten Mal, wie er auf der Strasse seinen Freund küsst. «Für sie war das ein richtiger Schock. Sie wurde sich bewusst, dass es sich nicht nur um eine Phase handelt. Ich meinerseits legte mir eine dicke Haut zu, haute von zu Hause ab und baute einigen Mist.»

In der Zwischenzeit wurde die Situation besser. Die Mutter traf sich mit Hakims Freund. «Als ich es zum ersten Mal meiner Familie sagte, hatte ich den Traum, dass man mir sagen würde, ‹es gibt keine Probleme›, und alles wäre weiter gelaufen wir vorher. Ich glaube, dass das fast nie so läuft. Auch die Familie braucht Zeit, dies zu verarbeiten.»

Und der Vater? In den Augen von Hakim ist ein Hauch von Traurigkeit zu sehen. Seit zwei Jahren lebt der Vater wieder im Nahen Osten und weiss nichts über die Homosexualität seines Sohnes.

«Ich plane, ihn diesen Sommer zu besuchen. Wahrscheinlich wird es der letzte Besuch sein, denn früher oder später wird er davon erfahren, und dann kann ich nicht mehr zu ihm gehen. Ich weiss genau, dass er es nie akzeptieren wird.»

Aktivismus

Es gibt noch einen anderen Faktor, der alles andere als marginal ist: Im Land, in dem der Vater von Hakim lebt – aus Diskretionsgründen nennen wir es nicht –  werden homosexuelle Beziehungen mit bis zu 10 Jahren Gefängnis bestraft. «Eigentlich geht es mir gut, ich lebe in der Schweiz. In einem Land wie Iran würde ich die Todesstrafe riskieren.» Und er erinnert an das schwere Schicksal, das Homosexuelle in vielen Regionen der Welt erleiden.

Es sind diese andauernden Diskriminierungen von lesbischen, homo-, bi- und transsexuellen Personen sowie das Gefühl, dass in den Schulen noch zu wenig zur Bekämpfung der Homophobie getan wird, die Hakim zu einem Aktivisten gemacht haben. Kürzlich hat er zusammen mit dem Jugendrat der Stadt Lausanne an einer Ausstellung über die Homophobie teilgenommen, die wegen ihres Erfolges auch in anderen Städten zu sehen sein wird.

«Ich habe eine Erziehung auf der Basis von Gerechtigkeit und Gleichheit genossen, sagt man hier. Ich bin jung, ich bin Idealist und habe Träume», so Hakim. «Und ich werde so lange kämpfen, bis sie realisiert sein werden.»

Am 17. Mai 1990 hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Homosexualität von ihrer Liste der Geisteskrankheiten entfernt und als «eine natürliche Variante des menschlichen Verhaltens» definiert. An dieses historische Datum erinnert jährlich der Internationale Tag gegen die Homophobie.

Trotz diesem WHO-Beschluss existieren in über 70 Ländern, Gebieten und Regionen immer noch Gesetze, welche die gleichgeschlechtlichen Beziehungen von Erwachsenen kriminalisieren.

In sieben Ländern werden homosexuelle Handlungen mit der Todesstrafe geahndet: Saudiarabien, Iran, Nigeria, Mauretanien, Sudan und Jemen. Kürzlich wurde in Uganda ein Gesetzesentwurf zur Einführung der Todesstrafe für Homosexualität nach heftigen internationalen Protesten zurückgezogen.

Homophobie unter Jugendlichen ist in den letzten Monaten vor allem in den USA zu einem brennenden Thema geworden. Dies infolge der Welle von Suiziden oder Suizidversuchen von Jugendlichen, die von ihren Kollegen oder der Familie wegen ihrer sexuellen Orientierung ins Visier genommen werden.

Laut einer von Amnesty International zitierten Studie muss sich ein homosexueller Schüler jeden Tag durchschnittlich 26 homophobe Kommentare anhören. In 97% der Fälle intervenieren die Lehrkräfte nicht.

28% der homosexuellen Schüler verlassen die Schule noch vor dem Erwerb eines Diploms, bei den Heterosexuellen sind es lediglich 11%.

Jede fünfte junge homosexuelle Person ist Opfer von physischen Aggressionen wegen ihrer sexuellen Orientierung.

(Übertragung aus dem Italienischen: Jean-Michel Berthoud)

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