Mit Mega-Erdbeben aus dem Schlaf geweckt
Das Erdbeben in Chile vom Samstag hat bisher mehr als 700 Tote und zahlreiche Verletzte gefordert. Viele werden noch immer vermisst. In den am stärksten betroffenen Regionen sind die Menschen ohne Strom und Wasser. Ein Augenzeugenbericht einer Schweizerin aus Santiago.
Wie alle Santiaguiner versuchte ich, beim immer stärker werdenden Schütteln meines Hauses über umstürzende Möbel im Dunkeln ins Freie zu kommen. Die drei Minuten der Erschütterung waren unendlich lang.
Mein zweites Erdbeben in Chile! Das erste erlebte ich im März 1985 in Santiago in einem Adobe-Haus von Freunden. Als sich die Staubwolke verzogen hatte, sahen wir hinter uns das halb zerstörte Haus.
Das Erdbeben vom Samstag hat mein Haus verschont. Als ich mit Nachbarn die ersten Nachrichten im Autoradio hörte, war mir das Ausmass der Katastrophe nicht bewusst. Schon um 7 Uhr gab´s wieder Strom, zwar kein Telefon, aber Internet.
Die ersten Fernsehbilder vermittelten mir aber schnell ein anderes Bild. Das Land ist vom schwersten Erdbeben seit 50 Jahren erschüttert worden: 8,8 Grad auf der Richter-Skala. Das Epizentrum lag 450 km südlich der Hauptstadt in einem Dorf mit Adobe-Häusern mit 5700 Einwohnern. Vom Dorf Cobquecura bleibt fast nichts übrig.
Was das Erdbeben in einem grossen Umkreis des Epizentrums nicht zerstörte, taten Minuten und Stunden später hohe Meereswellen in den Städten und Dörfern der Pazifik-Küste. Vom Tsunami betroffen wurde auch die Insel Juan Fernández, berühmt durch Robinson Crusoe von Daniel Defoe.
Entfesselung der Naturgewalt
Inzwischen präsentiert sich die Situation in Santiago fast wieder normal. Der Regierungspalast, das Kunstmuseum und andere historische Denkmäler weisen kleinere Schäden auf. Alte Gebäude, die schon 1985 litten, müssen aber abgebrochen werden. Mehrere neue schlecht gebaute Wohnblöcke neigen sich gefährlicher als der Turm von Pisa und wurden evakuiert.
Doch die Strom und Wasserversorgung ist wieder fast vollständig hergestellt. Wenn lange Autoschlangen an Tankstellen warten, ist dies auf Versorgungsangst und nicht Mangel zurückzuführen. Supermärkte haben wieder kürzere Öffnungszeiten mit halb gefüllten Gestellen, Lebens- und Waschmittel kunterbunt provisorisch gemischt.
Doch in den am stärksten betroffenen Regionen erzählen Opfer ihr Leid den Fernsehteams. Die Naturgewalt zerquetschte ihre Häuser wie Zündholzschachteln. Der anschliessende Tsunami riss noch stehende Häuser aus ihrer Grundfestung und schleuderte sie zusammen mit Schiffen und tonnenschweren Containern hunderte Meter landeinwärts. Ein Zirkus konnte zwar seine Affen retten, aber die Löwen überlebten den Tsunami in ihren Käfigen nicht.
Ganze Dörfer und kleinere Städte sind dem Erdboden gleich gemacht und viele Ortschaften Richtung Küste sind nur schwer erreichbar. Brücken sind eingestürzt und Strassen durch tiefe Risse unterbrochen. Viele Spitäler sind schwer beschädigt, und Verletzte müssen im Freien behandelt werden. In vielen Orten hat es weder Wasser noch Strom. Grundnahrungsmittel fehlen, es kam zu Plünderungen, und Häftlinge ergriffen die Gelegenheit zur Flucht.
Die Überlebenden suchen hilf- und ziellos nach Verschütteten oder Rettbarem, auch fremdem Hab und Gut. Aus Angst vor den vielen und starken Nachbeben übernachten sie unter freiem Himmel, auf Plätzen und Hügeln und versuchen, sich gegenseitig zu unterstützen.
Fehlende Hilfe – unmöglich in so kurzer Zeit angesichts des Ausmasses der Katastrophe – führt zu zunehmender Verzweiflung. Und es besteht die Angst um die unsichere Zukunft: wo anfangen und wie neu beginnen?
Ausnahmezustand ausgerufen
Am Sonntag verhängte die Regierung in den betroffenen Regionen den Ausnahmezustand und in der Provinzhauptstadt Concepción Ausgangssperre ab 21 Uhr. So können einerseits Geldmittel für Hilfe aus dem Staatsbudget sofort freigesetzt und andererseits auch die Bewegungs-, Versammlungs-, Informations- und Meinungsfreiheit eingeschränkt werden.
Während die überforderte Polizei Ruhe und Ordnung aufrecht erhalten soll, wird die Armee zusätzlich zur «Oficina Nacional de Emergencia» (entspricht der schweizerischen Katastrophenhilfe) für die Kanalisierung der Hilfsgüter, die Bergung Verschütteter und die Räumungsarbeiten eingesetzt. Das anfänglich unvermeidbare Chaos soll der Systematik weichen. Auch private Hilfsorganisationen sollen effizient arbeiten können. Von den Überlebenden erhofft sich die Regierung Vertrauen, dass Hilfe auf dem Weg ist.
Internationale Solidarität
Viele Länder, die UNO und die Europäische Union haben Chile ihre Hilfe angeboten. Laut Präsidentin Bachelet werden vor allem Ausrüstungen für Spitäler und für den Aufbau der Infrastruktur, Wasserreinigungsgeräte sowie Rettungsspezialisten benötigt.
Am Montag treffen die ersten drei Militärspitäler aus Argentinien ein. Erst wenn ein genaueres Kataster der Bedürfnisse besteht, will Chile die Hilfsangebote annehmen, um sie auch möglichst effizient einsetzen zu können.
«Chile auf die Beine stellen»
Die Katastrophe traf Chile zwei Wochen vor dem Regierungswechsel. In einigen Tagen wird eine bessere Übersicht über das Ausmass der Zerstörungen bestehen. Die Regierung von Michelle Bachelet wird sich auf humanitäre Hilfe und Räumungsarbeiten beschränken müssen. Der neuen Regierung, die am 11. März das Amt antritt, übernimmt eine schwere Bürde: den Wiederaufbau.
Unter dem Motto «Chile auf die Beine stellen» will der neue Präsident Sebastián Piñeira in Zusammenarbeit mit der Privatwirtschaft den Wiederaufbau meistern und koordiniert mit seinen bereits ernannten Ministern die Massnahmen mit der jetzigen Regierung.
Der tragischer Zufall einer langen Geschichte von Naturkatastrophen wollte es, dass das Mega-Erdbeben vom 27. Februar ins Jahr der Feier von 200 Jahren Unabhängigkeit fiel.
Regula Ochsenbein, Santiago de Chile, swissinfo.ch
Chile liegt an der Bruchstelle zweier tektonischer Platten und ist eines der erdbebengefährdetsten Länder der Welt.
Das Land hat eine lange Geschichte von Naturkatastrophen: Vulkanausbrüche, Erd- und Meeresbeben.
Seit dem Erdbeben von Valdívia am 22. Mai 1960 von 9,5 Grad der Richter-Skala mit nachfolgendem Tsunami und 1600 Toten ist das Erdbeben vom 27. Februar das schwerste in Chile.
Bisher werden mehr als 700 Todesopfer gezählt; mit den Bergungs- und Räumungsarbeiten werden sie in den kommenden Tagen zunehmen.
1939 forderte das Erdbeben in Chillan mit 30’000 Toten und 58’000 Verletzten die meisten Opfer.
Beben unter 3,5 Grad der Richter-Skala registriert der Seismograf, aber werden kaum wahrgenommen.
Beben von 7,0 – 7,9 Grad der Richter-Skala werden als schwere Erdbeben bezeichnet und verursachen grossen Schaden an Mensch und Gut.
Erdbeben von 8,0 und mehr Grad der Richter-Skala werden als Mega-Erdbeben bezeichnet und verursachen totale Zerstörung im Umkreis des Epizentrums. Erdbeben dieser Stärke und Meeresbeben verursachen Tsunamis.
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