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Mit Schiff und Privilegien nach Deutschland

Auswanderer-Ort Nattwerder: Abgesehen von den Landmaschinen hat sich das Ortsbild durch die Jahrhunderte kaum verändert. werderpluswerder.de

Sie wurden umworben, in der Heimat abgeholt und in der Fremde mit offenen Armen empfangen: Vor 330 Jahren siedelten 14 Berner Familien mitsamt ihrer Knechte und Mägde, insgesamt gut 100 Personen, nach Brandenburg unweit von Berlin über. In dem Dorf Nattwerder sind ihre Spuren heute noch lebendig.

Auf den ersten Blick erinnert nur ein hölzerner Wegweiser nach Bern an die Wurzeln der ersten Bewohner. Doch wer sich für die Geschichte des Schweizer Kolonistendorfes interessiert, findet in Nattwerder Externer Linkrasch kundige Quellen. Man muss sich nur zu Emil Mauerhof auf die Bank nahe der kleinen Kirche setzen. Der pensionierte Landwirt ist als letzter direkter Nachfahre der Schweizer Siedler so etwas wie eine lokale Berühmtheit und Fragen gewöhnt. Den Wegweiser nach Bern hat der 78-Jährige vor Jahren zum Geburtstag geschenkt bekommen. 1401 Kilometer, so ist dort eingebrannt, sind es auf dem Wasserweg bis in die Heimat seiner Vorfahren.

Emil Mauerhofs Familie lebt in der zehnten Generation in dem kleinen brandenburgischen Dorf mit seinen 35 Einwohnern in der Nähe von Potsdam. Hier kam er zur Welt, hier hat er wie seine Vorfahren sein gesamtes Leben verbracht. Der gutgelaunte Pensionär wohnt auf einem der vier Höfe, die sich entlang der Dorfstrasse aufreihen. Etwas abseits steht die kleine Dorfkirche.

Emil Mauerhof: Seine Schweizer Vorfahren hatten 1400 Kilometer zurückgelegt, um in Nattwerder eine neue Heimat zu finden. swissinfo.ch

Nattwerder – die nasse Insel

101 Schweizer Bürger legten hier im sumpfigen Golmer Luch im Jahr 1685 an. Ihre Fahrt hatte sie von Bern flussaufwärts über den Rhein in die Nordsee bis zur Elbmündung geführt, dann hinauf auf Elbe und Havel bis in die Nähe von Potsdam. «Das war für damalige Verhältnisse eine Luxusreise», sagt Dietmar Bleyl, der die Ortsgeschichte in Archiven recherchiert und in einem Buch publiziert hat. Der Brandenburgische Kurfürst liess die Siedler mit Schiffen aus Bern abholen, an Bord wurden sie verköstigt und quasi vor ihrer neuen Haustür abgesetzt, in der flachen, von Gewässern durchzogenen brandenburgischen Landschaft.

Sieben Wochen dauerte ihre Reise. Unterwegs, so geben es die Archive preis, ergriff ein Siedler die Flucht, einer starb und ein Kind wurde geboren. Am 16. Juni 1685 erreichten sie schliesslich ihr Ziel: Nattwerder – was nicht anderes als «nasse Insel» bedeutet. Der Name zeugt bereits von den Schwierigkeiten, mit denen die Landwirte anfangs zu kämpfen hatten. Zunächst galt es, das Land trocken zu legen. Doch zur Bewunderung der Eingesessenen machten die Neusiedler ihre Felder urbar und lebten sich ein.

Provokation für die Einheimischen

In der Schweiz herrschte damals nach einer Bevölkerungsexplosion drangvolle Enge und auch Armut. So klangen die Versprechen des Brandenburgischen Kurfürsten durchaus verlockend: Er hatte den Siedlern ein ansehnliches Paket an Privilegien geschnürt. Im Golmer Luch warteten bereits neue Häuser und Lebensmittel auf die neuen Bewohner. Die Berner erhielten freies Bau- und Brennholz, sie waren im Unterschied zu den heimischen preussischen Untertanen freie Bürger und von Abgaben und Militärdienst befreit. Ihr Prediger wurde vom Kurfürsten bezahlt und sie bekamen den Bau einer Kirche zugesichert. Das Kleinod wurde 1690 eingeweiht und ist bis heute vollständig erhalten.

Schweizer Siedler in Brandenburg

Der Dreissigjährige Krieg (1618-1648) hatte weite Landstriche Deutschlands entvölkert und verwüstet zurück gelassen. In Brandenburg verfolgte Kurfürst Friedrich Wilhelm daher gezielt Pläne, Siedler aus ganz Europa für einen Neuanfang in das Land zu holen. Mit grosszügigen Zusagen lockte er Menschen aus Holland und Frankreich, aber auch aus der Schweiz, in die Region nahe Berlin.

Die Schweizer standen nicht nur in dem Ruf, exzellente Milchbauern zu sein, sie gehörten zudem als Reformierte zur gleichen Glaubensrichtung wie der Brandenburger Kurfürst. Er schickte 1683 einen Gesandten nach Bern, um einen Vertrag mit weitreichenden Privilegien auszuhandeln. Eine Abordnung des Berner Rats reiste daraufhin1684 nach Brandenburg, um das Siedlungsland zu inspizieren und willigte schliesslich ein.

1685 kamen die ersten Berner Kolonisten in Brandenburg an. Auch die Nachfolger Friedrich Wilhelms führten die Anwerbepolitik fort. In der brandenburgischen Verwaltung kümmerte sich ein «Direktorium zum Schweizer Etablissement» um die Anwerbung und Anreise der neuen Bürger. Forscher schätzen, dass bis 1713 insgesamt 2000 Schweizer nach Brandenburg übersiedelten.

Für die zu jener Zeit noch in Leibeigenschaft lebenden Einheimischen waren die freien Bürger aus der Schweiz durchaus eine Provokation. «Die Privilegien sorgten für Unmut unter der heimischen Bevölkerung», weiss Dietmar Bleyl. Der königliche Befehl, die Schweizer nicht zu beschimpfen, lässt Rückschlüsse auf die Spannungen zu. Man blieb unter sich: Bis 1930 waren in Nattwerder noch alle Höfe in Besitz von Nachfahren der ersten Schweizer Siedler. 

Unverändert seit der Gründung

Vom Grundriss her hat sich Nattwerder seit seiner Gründung nicht verändert. Die vier grossen Höfe mitsamt ihrer Ställe stehen noch dort, wo der Kurfürst sie vor 330 Jahren für die neuen Bürger aus Bern bauen liess. Allerdings wurden sie 1867 nach einem verheerenden Brand wiederaufgebaut. Original erhalten ist jedoch die Kirche: Wie aus der Zeit gefallen steht sie hübsch restauriert inmitten alter Grabsteine der Schweizer Siedler.

«Nattwerder ist ein Prototyp aller späterer eidgenössischen Ansiedlungen in Brandenburg», erzählt Dietmar Bleyl. Der Weiler ist heute ein sogenanntes Flächendenkmal. Neubausiedlungen und Veränderungen an den Gebäuden sind tabu. So überschaubar und pittoresk Nattwerder auch sein mag: Das Dorf ist keineswegs ein Museum, sondern lebendiges Zuhause für seine Einwohner, unten ihnen zahlreiche Kinder, und ganz in der brandenburgischen Gegenwart verwurzelt.

Die helvetischen Anfänge sind Teil der Dorfgeschichte, aber nicht des gelebten Alltags. «Wir feiern hier nicht den Schweizer Nationalfeiertag», sagt Andreas Klein mit einem Lachen. Der Bildhauer ist Vorsitzender des Vereins «Schweizer Kolonistendorf Nattwerder», der das Erbe lebendig hält. Unter anderem werden in der kleinen Dorfkirche regelmässig Orgelkonzerte veranstaltet, die in der ganzen Region bekannt sind. An der Restaurierung des Instruments hat sich auch die Schweizer Botschaft in Berlin finanziell beteiligt.

Ein Dorf pflegt sein Erbe

«Zu DDR-Zeiten sah es hier anders aus», berichtet Andreas Klein. Damals bröckelte der Putz von den grauen Wänden. Der Staat hegte kein grosses Interesse, das idyllische Dorfensemble vor dem Verfall zu bewahren. Also legten die Dorfbewohner 1984 im Vorfeld der 300-Jahrfeier selber Hand an, um ihre Kirche zu renovieren. Emil Mauerhof erinnert sich noch gut an das Organisationstalent, das in den Jahren der Mangelwirtschaft gefragt war, um an die notwendigen Baustoffe und Gerätschaften zu kommen. «Freitags brachten einige die Gerüste von den Baustellen mit, auf denen sie arbeiteten, und nahmen sie montags wieder mit.»

Als die Mauer fiel und damit auch Reisen in die Schweiz möglich waren, machte er sich 1991 in Wartburg auf den Weg nach Bern. «Ich wollte einmal sehen, wo meine Vorfahren herkommen», erzählt er. Doch zuhause, daran lässt er keinen Zweifel, ist er in der brandenburgischen Mark, in seinem Dorf und seiner Gemeinschaft. Häufig, sagt Andreas Klein, stellt in Nattwerder freitags einfach jemand einen Tisch auf die Strasse. Nach und nach gesellen sich dann spontan immer mehr Nachbarn dazu. Wenn gerade kein Auto das Bild in die Gegenwart katapultiert, kann man sich diese Szene leicht vor 300 Jahren ganz ähnlich vorstellen: als die ersten Siedler in der Fremde eng zusammenrückten und gemeinsam den Tag ausklingen liessen.

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