Mitbestimmen in den Bündner Bergen
St Antönien liegt ab der Welt, fern von Lärm und Hektik: Die kleine Gemeinde im Prättigau, Graubünden, lebt aber keineswegs hinter dem Mond, im Gegenteil: Sie plant ein Solarkraftwerk an Lawinenverbauungen und lässt ihre Ausländer politisch partizipieren.
Dass St. Antönien vor einem halben Jahr den Ausländerinnen und Ausländern, die seit mindestens 5 Jahren hier leben, das Stimm- und Wahlrecht zugestanden hat, erfüllt Hans Rieder, den 66-jährigen Gemeindepräsidenten und Sozialdemokraten mit «gewerkschaftlicher Gesinnung», wie er sagt, mit Freude und Stolz.
Das Gesuch um politische Mitbestimmung war von einer Holländerin eingereicht worden, die seit 10 Jahren hier wohnt, schulpflichtige Kinder hat und in der Talschaft ein Bed-and-Breakfast führt. Das Geschäft kam an der Gemeindeversammlung vom 1. Dezember 2011 einstimmig durch, ein paar der knapp 30 Anwesenden enthielten sich der Stimme.
So Konrad Flütsch. Für den 85-Jährigen wäre «dies jetzt nicht dringend nötig» gewesen. «Aber das müssen die Jungen entscheiden», sagt er. Der frühere Dorfchronist sitzt auf einer Bank vor seinem Maiensäss und schaut ins Tal hinunter. Für die aktuelle Politik interessiert er sich sowieso nicht mehr so sehr, seine Leidenschaft gilt den alten Sagen und Flurnamen in der Talschaft.
Weniger skeptisch äussert sich der pensionierte Schreinermeister Kaspar Flütsch, wenn auch etwas wortkarg. Nein, er habe eigentlich kein Problem mit dem Ausländerstimmrecht. «Man kennt die Ausländer hier, es sind flotte Leute, sonst wäre ich nicht begeistert.»
Demokratiewürdig
Auch wenn die Vorlage laut dem Gemeindepräsidenten «schlank und ohne Diskussion» genehmigt wurde, seien am Stammtisch schon hin und wieder kritische Stimmen zu hören, wie etwa: «Jetzt werden wir dann von denen regiert.»
An der Gemeindeversammlung hätten sich diese Leute aber nicht geäussert oder seien gar nicht gekommen, moniert Rieder, ein «Auswärtiger». Der Präsident der St. Antönier stammt aus dem Kanton Aargau, hat viele Jahre in Zürich gearbeitet und später im Tal ein Berggasthaus geführt.
Ebenfalls kein Hiesiger ist Hubert Zurkinden. Der frühere Generalsekretär der Grünen Partei Schweiz führt zusammen mit seiner Partnerin seit drei Jahren das Hotel Rhätia, das mitten im Kern St. Antöniens neben der alten Kirche steht.
Für den Freiburger ist es selbstverständlich, dass Leute, die seit fünf Jahren hier leben und die gleichen Pflichten wie die Schweizer erfüllen, das Stimm- und Wahlrecht haben. «In einer vorbildlichen Demokratie, als die sich die Schweiz gerne versteht, sowieso.»
Dass das Ausländerstimmrecht durchkam, erstaunt ihn nicht. Die Ausländer in der Talschaft seien gut integriert und akzeptiert. «Die St. Antönier entscheiden in der Regel pragmatisch und nicht aufgrund von Ideologien im Kopf.» Und dass die Einheimischen überstimmt würden, müsse bei einer ausländischen Bevölkerung von etwas über 3% ja kaum befürchtet werden», schmunzelt Zurkinden.
Auch Maria Brosi-Flütsch findet es voll in Ordnung, dass hier lebende Ausländer mitentscheiden können. «Sie haben Kinder in der Schule und zahlen Steuern.» Negative Reaktionen habe es kaum gegeben, sagt die Landwirtin, die bei voller Nachmittagssonne auf den Feldern des Tals Steine einzusammelt,
Lediglich ein Auslandbündner, der in Spanien lebt, habe sich in einem Leserbrief mit dem Titel «St. Antönien: Dümmer geht’s nimmer» extrem über das Ausländerstimm- und Wahlrecht empört, mokiert sich die Landwirtin.
Von Kairo in die Bündner Berge
In der 360-Seelen-Gemeinde St. Antönien wohnen ein Dutzend Ausländer, 10 von ihnen stammen aus Holland, einer aus dem Südtirol, ein weiterer aus Ägypten: Mohamed Hossni, von den St. Antöniern liebevoll «Mohi» genannt. Er ist in der Nähe von Kairo aufgewachsen – «dort, wo auch der neugewählte Präsident Mohammed Mursi herkommt», erzählt er im Gespräch mit swissinfo.ch.
Der 34-jährige Ägypter arbeitete als Barkeeper in 5-Sterne-Hotels am Roten Meer. Dann hat ihn die Liebe vor fünf Jahren in die Bünder Berge verschlagen, wo er zusammen mit seiner Frau das Berggasthaus «Gemsli» führt, die Dorfkneipe St. Antöniens.
Hossni beschreibt die Einwohner der kleinen Gemeinde als «weltoffen». Deshalb hat ihn die Zustimmung zur Partizipation der Ausländer nicht wirklich überrascht. Und dass er als Araber und Moslem akzeptiert werde, sei nicht selbstverständlich, sagt er in fast akzentfreiem Prättigauer Dialekt.
In den ersten Monaten war der Kulturschock für den jungen Mann aus den Nahen Osten gross. «Es war hart. Dann konzentrierte ich mich schnell auf die Arbeit und das Erlernen der Sprache.»
Inzwischen schätzt der Vater von zwei kleinen Töchtern die Ruhe und die Natur. Seit drei Jahren fährt er Ski und ist ein passionierter Fischer geworden. Hat er einmal Heimweh, telefoniert er mit seinen Angehörigen. Und jedes Jahr fährt die Familie für drei Wochen nach Ägypten in die Ferien. «Ich bin stolz, Ägypter zu sein. Aber zu Hause bin ich jetzt hier.»
«Wir gehen auch nicht jedes Mal»
Im Juni, an der ersten Gemeindeversammlung seit dem Beschluss im Dezember, ist kein einziger der stimmberechtigten Ausländer erschienen. «Auf der Traktandenliste stand das geplante Solarkraftwerk, die Nutzungsplanung, und die Gemeinderechnung. Vielleicht war es zu wenig spannend», rätselt Gemeindepräsident Rieder.
Laut dem Rhätia-Wirt Hubert Zurkinden darf man nicht erwarten, dass die ausländischen Mitbewohner – nur weil sie jetzt das Stimmrecht haben – an jede Versammlung kommen müssen. «Wir gehen auch nicht jedes Mal.»
Schäbig sei das gewesen, moniert hingegen Erwin Steiner. «Zumindest die Initianten hätten beim ersten Mal erscheinen können.»
Über Mohi aber hört man nur Gutes. So auch am Stammtisch im Hotel Rhätia. «Der Mohi ist vorbildlich», sagt Erwin Steiner, der bis vor kurzem verantwortlich für Strassen und Lawinen in der Gemeinde war.
«Wer hier arbeitet, ist in Ordnung. Gesindel und ausländische Kriminelle, wie es sie vielerorts gibt, wollen wir nicht. Der Mohi aber ist schon recht.»
Und wer weiss, vielleicht wird es in St. Antönien einmal einen Gemeindepräsidenten aus Ägypten geben. Denn die Ausländer können hier nicht nur stimmen, sondern auch gewählt werden.
Die Gemeinde zählt 360 Einwohnerinnen und Einwohner, davon 12 (gut 3%) mit Ausländerstatus.
Am 1. Dezember 2011 hat die Gemeindeversammlung das Stimm- und Wahlrecht für Ausländer ohne Gegenstimme angenommen.
Seit 2004 haben Gemeinden im Kanton Graubünden die Möglichkeit, Ausländern auf kommunaler Ebene das Stimm- und Wahlrecht zu gewähren. St. Antönien ist die 19. Gemeinde, die davon Gebrauch macht.
Nur in 8 Schweizer Kantonen, davon 5 in der französisch-sprachigen Schweiz, ist das Ausländerstimm- und Wahlrecht auf Gemeindeebene möglich.
St. Antönien, das seit etwa 15 Jahren mit dem Slogan «Hinter dem Mond, links» wirbt, liegt in einem Seitental des Prättigaus. Ursprünglich war es von Walsern besiedelt. Gegen Süden ist das Tal offen, im Norden schliessen die imposanten Kalkflühe der Rhätikonkette das Tal ab. Sie bilden gleichzeitig die Grenze zu Österreich.
Die lawinengefährdete Region hat 14,5 km Lawinenverbauungen. Geplant ist, 8km von ihnen mit Solarmodulen zu bestücken. Das Sonnen-Kraftwerk soll einst Strom für 1200 Haushalte liefern.
St. Antönien ist mehrheitlich deutschsprachig. 30% der Bevölkerung sind in der Landwirtschaft tätig (25 Betriebe), 30% sind Pendler, der Rest ist im Tourismus tätig.
Die Gemeinde hat einen Kindergarten, eine Schule bis zur 6. Klasse, einen Lebensmittelladen mit integrierter Post und eine knapp 520 Jahre alte reformierte Kirche.
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