Mord an Marie setzt Schweizer Justiz unter Druck
Die Ermordung einer 19-Jährigen im Kanton Freiburg schockiert nicht nur die Schweizer Öffentlichkeit, sondern setzt auch die Justiz unter grossen Druck. Der Grund: Der mutmassliche Täter ist ein verurteilter Mörder, der sich noch immer im Strafvollzug befindet.
Der Mord an der 19-jährigen Marie im Kanton Freiburg wühlt die Schweiz auf. Dies, weil es sich beim mutmasslichen Täter um einen Mann handelt, der vor 13 Jahren wegen Entführung, Vergewaltigung und Mord zu einer Freiheitsstrafe von 20 Jahren verurteilt worden war und sich noch immer im Strafvollzug befindet.
Im Zuge der Resozialisierung gewährten ihm die Behörden des Kantons Waadt, wo er einsass, nach zwei Dritteln der Strafe im August 2012 die Versetzung in Hausarrest; zur Überwachung musste er elektronische Fussfesseln tragen.
Kein Geständnis
Der Mann hatte die junge Frau, angeblich seine Ex-Freundin, am Montagabend in Payerne auf offener Strasse in sein Auto gezerrt. Die Szene wurde jedoch von Zeugen beobachtet. In einer grossangelegten Fahndung wurde der Entführer am Dienstag nach spektakulärer Verfolgungsjagd verhaftet. In der Nacht auf Mittwoch führte er die Polizei in einen Wald an den Ort, wo der leblose Körper der jungen Frau lag. Den Mord hat er bisher nicht gestanden.
Brisant an der Sache: Nach Gewährung des Hausarrests hatte der Mann mehrere Todesdrohungen gemacht, weshalb die Bewährungshilfe die Rückversetzung in die Haftanstalt gefordert hatte. Doch der Mann legte Rekurs ein, dem ein Gericht aufschiebende Wirkung zugestand.
Vertrauen zurückgewinnen
«Wie konnte ein solches Monster in Freiheit gesetzt werden. Wie ist das möglich? Nach dem Mord an Marie stellt sich die ganze Schweiz diese Frage», schreibt La Liberté aus Freiburg. Das Justizsystem müsse sich nun hinterfragen. «Dies ist die Grundbedingung, das Vertrauen der Bürger, das nach solch einer Tat geschwunden ist, wieder zu gewinnen.»
«Weshalb diese Leichtfertigkeit?», fragt La Regione aus der Südschweiz. «Wer hat die massiven Störungen ignoriert, die Mörder stets aufweisen, und die durch Zeugen bestens dokumentiert sind?». Die Antworten seien sehr wahrscheinlich in einem Verfahrensfehler zu suchen.
«Wie kommt es, dass diese schreckliche Person sich draussen befindet?», fragt auch Le Matin aus Lausanne. Das «nie mehr», das man nach dem Mord an Lucie gefordert habe, werde auch nach dem Tod von Marie wiederholt. «Hoffen wir von ganzem Herzen, dass es dieses Mal wirklich das letzte Mal war.»
Daran mag 24 heures nicht glauben. «Nie mehr. Dieses Versprechen ist nicht einlösbar, weil es die Normabweichung im menschlichen Verhalten negiert, die Erfindungsgabe im Ausdruck des Bösen, aber auch das Gleichgewicht von sozialen Regeln und individueller Freiheit, das unseren Demokratien zugrunde liegt.»
Gratwanderung Beurteilung
Auch das Bündner Tagblatt greift das Versprechen auf. «Und wieder heisst es: ‹Nie mehr!», titelt die Zeitung und erinnert an frühere Fälle, in denen Wiederholungstäter auf Hafturlaub oder nach der Freilassung junge Frauen und Kinder umgebracht hatten.
«‹Nie mehr› – das ist auch der Volkswille, wurde doch Anfang 2004 aufgrund der gutgeheissenen Verwahrungsinitiative das schweizerische Strafgesetzbuch mit einem Passus ergänzt, wonach ein Sexual- oder Gewaltstraftäter, der ‹als extrem gefährlich erachtet und nicht therapierbar eingestuft› wird, ‹wegen des hohen Rückfallrisikos bis an sein Lebensende zu verwahren› sei. Und zwar ohne jegliche Aussicht auf frühzeitige Entlassung oder Hafturlaub», so das Bündner Tagblatt.
Doch die zuständigen Psychiater und Richter würden lieber an den «armen» Täter denken, der sich doch in den Jahren der Verwahrung geändert, positiv entwickelt haben könnte, als an die potenziellen Opfer, die es bei einer Freilassung eben geben könnte – und im aktuellsten Fall auch wieder gegeben habe. «Hier muss endlich ein Umdenken stattfinden. Denn offensichtlich gelingt es solchen Tätern immer wieder, ihre Psychiater und Betreuer um den Finger zu wickeln», fordert die Zeitung.
Bei einem Sexualtäter oder Mörder sei jede Fehleinschätzung eine zu viel. Psychiater und Richter müssten deshalb noch stärker in die Pflicht genommen werden. «Marie wird dadurch nicht wieder lebendig – aber vielleicht schaffen wir es doch, dass brutale Täter ’nie mehr› zu Wiederholungstätern werden.»
Verwantwortliche entlassen
Von einem «Mörderischen Versagen» spricht die
Neue Luzerner Zeitung. «Man kann sich kein sinnloseres Opfer vorstellen als den bestialischen Tod dieser jungen Frau.» Man könne und wolle nicht glauben, dass ein Gewaltverbrechen mit einer derartigen Vorgeschichte bei uns möglich sei.
«Und doch – oder erst recht – bleibt zu hoffen, dass Maries Sterben nicht umsonst war. So gilt es in der Waadt nun alles daranzusetzen, dass die Verantwortlichen dieses tödlichen Fehlentscheids ihre Funktionen verlieren. Und darüber hinaus braucht es einen Ruck im ganzen Land: In sämtlichen Amtsstuben muss es dämmern, dass es bei tödlicher Gefahr nicht den geringsten Kompromiss erträgt», so die NLZ.
Die Aargauer Zeitung sieht durch die Tat den Rechtsstaat in Bedrängnis. «Klar ist: Mit jedem Fall – ob er ‹Lucie› oder ‹Marie› heisst – steigt der Druck auf Richter und Strafvollzugsbehörden, die das Recht auf Haftentlassung gefährlicher Straftäter sporadisch überprüfen müssen.» Gleichzeitig steige die Versuchung, populistischen Tönen zu erliegen. «Was aber tun? Gewalt- und Sexualtäter für immer wegsperren? Bei manch einem muss die Antwort Ja heissen. Das Dilemma aber, mit dem sich Richter auseinandersetzen müssen, liegt darin: bei welchen?» Die Verantwortlichen müssten deshalb alles unternehmen, die Richtigen lebenslang zu verwahren.
«Versuch mit Fussfessel gescheitert»
«Warum musste Marie sterben?», fragt der Blick und weiss, «Marie könnte noch leben!» Die Boulevardzeitung spricht von einem «Justizskandal um ihren Mörder»: «Wieder scheitert der Versuch, einen Sex-Täter mit Fussfessel zu überwachen. Wann geben die Behörden das fahrlässige Experiment auf?» Man könne eigentlich nur den Kopf schütteln. Schon wieder entwische ein gefährlicher Sexualstraftäter. Schon wieder gebe es ein Opfer. «Schon wieder stehen die Behörden mit dem Rücken zur Wand», so der Blick.
«Sexualstraftäter tötet während Vollzug», titelt die Neue Zürcher Zeitung (NZZ), nun stehe die Waadtländer Justiz am Pranger. «Nach der Bluttat stellt sich die Frage, ob die Behörden das Rückfallrisiko des Verurteilten falsch eingeschätzt hatten», so die betont nüchterne NZZ.
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