Muslime sehen sich wachsenden Anfeindungen ausgesetzt
Beschimpfungen auf der Strasse, Beleidigungen auf sozialen Netzwerken oder sogar Handgreiflichkeiten: Juden und Muslime werden in der Schweiz wegen ihrer Religion angefeindet. Besonders Muslimfeindlichkeit ist salonfähig geworden.
Aktuell: Fachtagung zu Muslimfeindlichkeit
Die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus EKR lädt am 11. September 2017 zu einer Fachtagung zum Thema MuslimfeindlichkeitExterner Link in Gesellschaft, Medien und Politik an der Universität Freiburg ein. An der Tagung werden die neusten Forschungsarbeiten und Studien zur Wahrnehmung der Muslime in der Schweiz vorgestellt.
Als diesen Sommer eine Hauswartin in einem Schweizer Hotel einen Dusch-Appell an jüdische Gäste richtete, schaute die ganze Welt mit Entsetzen auf die Schweiz. Antisemitismus von der übelsten Sorte sei das, befand das israelische Aussenministerium.
Und seit das Schweizer Stimmvolk den Bau von Minaretten und das Tessiner Stimmvolk den Gesichtsschleier verboten, wird die Schweiz von Muslimen in aller Welt als islamophob kritisiert. Ist das kleine Alpenland ein Hort von Antisemitismus und Islamfeindlichkeit? Und falls ja, wen trifft es härter: Juden und Jüdinnen oder Muslime und Musliminnen?
Verlässliche Zahlen oder vergleichbare Daten existieren in der Schweiz nicht. Doch einige Studien lassen zumindest vage Schlüsse zu:
- Eine Studie aus dem Jahr 2014Externer Link zeigt, dass bei 11% der Befragten ein stereotyper Antisemitismus und bei 19% stereotype Einstellungen gegenüber Muslimen zu beobachten sind.
- Muslimfeindlichkeit nimmt tendenziell zu, während Judenfeindlichkeit insgesamt eher stagniert.
- Eine soeben publizierte Studie über Muslime in EuropaExterner Link zeigt, dass Muslime in der Schweiz seltener Diskriminierungserfahrungen machen als in Österreich, Grossbritannien oder Frankreich. Während in Österreich 28% der Befragten keinen Muslim als Nachbarn wollen, sind es in der Schweiz «nur» 17%.
Verkürzt lässt sich also sagen: Sowohl Juden als auch Muslime haben mit Ressentiments zu kämpfen, wobei es Muslime in der Schweiz etwas schwerer haben als Juden, aber nicht schlechter als Muslime in anderen westeuropäischen Ländern.
Juden und Muslime werden auf der Strasse beschimpft
Wir haben jüdische und muslimische Verbände angefragt, wie sich Juden- und Muslimfeindlichkeit ihren Erfahrungen nach in der Schweiz konkret äussert. Jonathan Kreutner, Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG), erzählt, dass sich Hass auf Juden vor allem im Internet, aber auch in Form von Zuschriften, Schmierereien und Beleidigungen auf der Strasse zeige. «Gelegentlich kommt es auch zu körperlichen Übergriffen.»
Auch Önder Güneş von der Föderation islamischer Dachorganisationen der Schweiz (FIDS) sagt: «Es gibt massive Beleidigungen und Unverständnis in den Kommentarspalten der sozialen Netzwerke.» Und Qaasim Illi vom strenggläubigen Islamischen Zentralrat Schweiz (IZRS)Externer Link erzählt von Beschimpfungen auf der Strasse, Bespucken, Mobbing in der Schule und Mühe bei der Stellensuche wegen des Kopftuchs.
Laut der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus EKR werden sowohl Juden als auch Muslime durch verbale oder schriftliche Aggressionen angefeindet – vor allem auf den sozialen Netzwerken. Muslime hätten im Unterschied zu Juden zusätzlich mit Diskriminierungen auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt zu kämpfen.
Wer sind die «Hater»?
Laut der EKR haben in den letzten zwei Jahren die Anfeindungen der Rechtsextremen sowohl gegenüber Juden als auch Muslimen zugenommen. Muslim- und Judenfeindlichkeit gebe es aber auch in anderen Bevölkerungsgruppen.
Laut Kreutner vom SIG wird in Zuschriften an Juden häufig eine rechtsextreme Sprache verwendet. Von linker Seite gebe es manchmal Kritik an Israel, die die Grenze zum Antisemitismus überschreite. Und: «Bei Beleidigungen auf der Strasse argumentieren die Täter manchmal islamistisch.» Vor allem in sozialen Netzwerken könne man junge Muslime beobachten, die gegen Juden hetzten – meist anlässlich von Auseinandersetzungen zwischen Israel und Palästinensern.
Der Nahostkonflikt spielt eine zentrale Rolle beim islamischen Antisemitismus. Illi vom IZRS räumt ein, dass Muslime ein Problem mit Israel hätten: «Der Grund für das angespannte Verhältnis zwischen Muslimen und Juden ist nicht ein ethnischer oder religiöser wie beim europäischen Antisemitismus, sondern ein politischer und hochaktueller.» Antisemitismus sei aber der falsche Ansatz. Bis zur Gründung des israelischen Staates 1948 hätten Muslime und Juden überall in der arabischen Welt friedlich zusammengelebt.
Warum Muslime die «neuen Juden» sind
Warum stossen Muslime und Musliminnen auf noch grössere Ablehnung bei der Schweizer Bevölkerung als Juden und Jüdinnen? Es gibt eine Reihe von möglichen Gründen:
- Die jüdische Bevölkerung lebt seit vielen Generationen in der Schweiz und hat meist den Schweizer Pass. Die muslimische Bevölkerung ist erst seit den 1960er Jahren eingewandert. Als Ausländer haben Muslime ein doppeltes Stigma.
- Eine zweite Erklärungsmöglichkeit liegt in der Tatsache, dass Juden eine sehr kleine und konstante Minderheit von 18’000 Einwohnern sind, wohingegen die muslimische Bevölkerung wegen der Zuwanderung von etwa 3’000 Personen im Jahr 1960 innert weniger Jahrzehnten auf fast 450’000 (5,5% der Bevölkerung) angewachsen ist.
- Das Weltgeschehen und die Medienberichterstattung haben einen grossen Einfluss auf die Meinung in der Bevölkerung. Güneş vom FIDS sagt: «Die mediale Berichterstattung in der Schweiz über den Islam ist zu vier Fünfteln eher negativ geprägt. Das hinterlässt Spuren bei der Bevölkerung.» Besonders der islamistische Terror führt zu Ängsten und Ressentiments.
Weltgeschehen und Medienberichterstattung haben allerdings auch Auswirkungen auf den Antisemitismus: Nach Auskunft vom SIG bekommen Juden in der Schweiz politische und militärische Ereignisse in Israel jeweils stark zu spüren. «Bei der letzten Eskalation 2014 schwappte eine regelrechte antisemitische Welle über die Schweiz, mit unzähligen Drohungen gegen die hiesigen Juden.»
Islamskepsis trifft indirekt auch Juden
Wegen der direkten Demokratie zeigt sich die Stimmung in der Bevölkerung hierzulande schneller und deutlicher in politischen Entscheiden als in anderen europäischen Ländern – wie beispielsweise Minarett- und Burkaverbote zeigen. Aktuell gibt es politische Diskussionen darüber, ob der Import von geschächtetem FleischExterner Link aus Tierschutzgründen verboten werden soll. Schächten ist in der Schweiz aufgrund eines Volksentscheids schon seit 1893 verboten. Auch JungenbeschneidungenExterner Link oder das Verweigern des Händeschüttelns aus religiösen Gründen und Kopfbedeckungen wie das Kopftuch werden kontrovers diskutiert. Alle diese tatsächlichen oder diskutierten Verbote treffen fast ausschliesslich Juden und Muslime.
Laut Kreutner vom SIG ist klar, dass solche Verbote in erster Linie auf den Islam zielen, dabei aber auch jüdische Menschen treffen. «Wir würden dafür aber nicht Muslimfeindlichkeit oder Antisemitismus verantwortlich machen, sondern eher die zunehmende Säkularisierung und eine generelle Skepsis gegenüber Religion.»
Diese Religionsskepsis zeigt sich besonders gegenüber dem Islam: Laut der Studie aus dem Jahr 2014Externer Link sind deutlich mehr Schweizer kritisch gegenüber dem Islam als gegenüber Muslimen (38% versus 19%). Anna-Konstanze SchröderExterner Link von der Arbeitsgruppe für Empirische Religionsforschung (AGER) der Universität Bern bestätigt: «Feindseligkeit gegenüber dem Islam ist oft stärker als gegenüber Muslimen. Kritik an Juden und Judentum unterscheiden sich weniger deutlich.» Für die Islamkritik ausschlaggebend sind islamistischer Terror, islamischer Imperialismus und die Scharia – Aspekte, die es im Judentum so nicht gibt.
Antisemitismus wird ernster genommen
Obwohl gemäss Befragungen die Muslimfeindlichkeit in der Schweiz stärker ausgeprägt ist als Judenfeindlichkeit, sprechen die Verurteilungen eine andere Sprache: Von allen Strafurteilen wegen Rassismus betreffen 28% Vorfälle gegen Juden und nur 5% gegen Muslime. Laut der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus EKR werden möglicherweise mehr antisemitische Vorfälle angezeigt als muslimfeindliche.
Antisemitismus wird in der Gesellschaft auch ernster genommen als Muslimfeindlichkeit. Güneş von der FIDS erzählt beispielsweise: «Spitze und übertriebene Wortmeldungen in den Medien und im Freundeskreis werden nicht sofort zurückgewiesen, man lacht sogar darüber.»
Und Illi vom IZRS sagt gegenüber swissinfo.ch, dass sich Antisemitismus heute eher latent zeige, während Islamophobie salonfähig geworden sei. «Wer gegen Juden hetzt, muss mit raschen auch juristischen Konsequenzen rechnen. Gleiches kann bei der Islamhetze nicht behauptet werden.» Eine Einschätzung, die auch die Wissenschaftlerin Schröder teilt: «Ich glaube, der Hauptgrund für den Unterschied ist, dass in der öffentlichen Debatte die Kritik beziehungsweise die Vorurteile gegenüber Muslimen erlaubt sind, nicht aber gegenüber Juden.»
Juden und Muslime in der Schweiz – eine kurze Geschichte
Muslimische SarazenenExterner Link drangen Anfang des 10. Jahrhunderts in die Schweizer Alpen ein. Der muslimische Glaube verschwand um das Jahr 975 mit den Sarazenen zunächst wieder aus der Schweiz.
Jüdisches Leben ist in der Schweiz ab dem Jahr 1150 archäologisch nachweisbar. Im Mittelalter wurde die jüdische Bevölkerung in der Schweiz aber ermordet und vertrieben, so dass zeitweise praktisch keine Juden mehr in der Schweiz lebten. Erst im späten 16. Jahrhundert siedelten sie sich wieder an, blieben aber eine kleine Minderheit: Im Jahr 1850 lebten bloss 3’000 Juden in der Schweiz. Erst durch Zuwanderung aus dem Elsass, Deutschland und Osteuropa wuchs die jüdische Bevölkerung auf 21’000 Personen im Jahre 1920.
Ab den 1960er-Jahren wanderten viele Muslime aus der Türkei und Jugoslawien in die Schweiz ein. Später kamen Einwanderer aus Nordafrika, Asien und der Golfregion dazu. Heute leben deutlich mehr Muslime (450’000) in der Schweiz als Juden (18’000). Die meisten Juden werden mit Schweizer Pass geboren, wohingegen viele Muslime Ausländer oder Doppelbürger sind. Beide Religionsgemeinschaften kämpfen seit Jahren – teilweise vergeblich – um öffentlich-rechtliche Anerkennung.
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