Muslime in der Schweiz: Zwischen Verurteilung und Selbstkritik
Während die Allianz gegen das irakisch-syrische "Kalifat" aufgebaut wird, bekennen Muslime in der Schweiz Farbe. Die Verurteilung ist einhellig, die Motivation unterschiedlich: Vom Respekt für den Geist des Koran über Verschwörungs-Theorien bis zum Gedanken, den Islam einer "Qualitätskontrolle" zu unterziehen.
«Wir wollen nicht mit diesen Leuten verwechselt werden, welche die Menschheit unterschiedslos bedrohen und zerstören.» Hafi Ouardiri, 30 Jahre Sprecher der Genfer Moschee und heute Direktor der «Fondation de l’Entre-Connaissance»Externer Link, einer Stiftung für interkonfessionellen Dialog, ist zornig. «Schrecklich, ja. Und es ist ein gerechter Zorn. Wir sind auch etwas zu Geiseln geworden, gefangen zwischen dieser Barbarei, die im Namen unseres Glaubens geschieht, und jenen, welche die Argumente dieser Irregeleiteten, dieser Psychopathen brauchen, um uns gegenüber Islamophobie zu schüren.»
«Ich fühle mich sehr schlecht», bekräftigt seinerseits in St. Gallen Hisham Maizar, der Vorsitzende der Föderation Islamischer Dachorganisation Schweiz (FIDS) Externer Link. «Diese Gruppen, die sich Islamischer Staat nennen, lasten schwer auf unseren Schultern. Ihre barbarischen, bestialischen und unmenschlichen Methoden haben nichts mit dem Islam zu tun.»
Weckruf
Die normalerweise eher diskrete Gemeinschaft der Muslime in der Schweiz – wenn dieser Ausdruck überhaupt Sinn macht, in einem Land, in dem gegen 330’000 Muslime (4,9% der Bevölkerung) aus über 30 Ländern und noch mehr Kulturkreisen leben, die ihre Religion ganz unterschiedlich praktizieren – meldet sich als Reaktion auf die Bilder aus Irak und Syrien, die aus einer anderen Zeit zu kommen scheinen, zu Wort. Auch wegen der drohenden Gefahr, dass weitere junge Schweizer sich der unheimlichen schwarzen Phalanx anschliessen könnten.
In Lausanne richtete das albanische islamische Zentrum einen Appell an die «Jugendlichen und deren Verantwortliche», den Verlockungen des Dschihad zu widerstehen und nicht «in die Falle der Gehirnwäscher zu tappen». In Neuenburg verurteilten die muslimischen Vereinigungen, die kantonale Kommission für den multikulturellen Zusammenhalt und der Polizeikommandant gemeinsam «die Gräueltaten und Barbarei» des «Islamischen Pseudo-Staats».
Für Frankreich, wie auch für die USA und Grossbritannien, die Sperrspitzen der Allianz gegen die Dschihadisten, ist der selbst proklamierte «Islamische Staat» weder ein Staat, noch eine Vertretung des Islam. Die Allianz hat sich daher offiziell darauf geeinigt, für den gemeinsamen Feind die Abkürzung «Daech» zu verwenden, die in der arabischen Welt von Anfang an benutzt wurde.
Diese Bezeichnung hat den Vorteil, den Gefühlen der grossen Mehrheit der Muslime Rechnung zu tragen, die ihre Religion nicht mit Barbarei und Obskurantismus in Verbindung gebracht sehen wollen.
Buchstäblich allerdings ist «Daech» nichts anderes als das Akronym für «al-daoula al-[i]slamiya fi al-erak wal-cham», wörtlich «Islamischer Staat in Irak und der Levante» oder ISIL. Doch seine Führer mögen diese Abkürzung nicht. Sie war kurz nachdem die Gruppe im April 2013 in Erscheinung trat, von Medien lanciert worden, die ihr gegenüber feindlich eingestellt sind, wie die TV-Kette Al-Arabiya und verschiedene iranische und libanesische Sender. Das Ziel war, die Worte «Staat» und «Islamisch» zu verschleiern. Dazu kommt, dass es in Arabisch zwar kein Wort «Daech» gibt, aber zwei phonetisch ähnliche, aber semantisch wenig sympathische Ausdrücke, wie «Daes» – jemand, der etwas mit seinem Fuss zerquetscht, oder «Dahes» – jemand, der Zwietracht sät.
(Quelle: France 24)
Eine Bezeichnung, die auch Hafid Ouardiri nicht mehr hören will. Wie die internationale Allianz, die zurzeit aufgebaut wird, will er, dass man «diese barbarischen, gewalttätigen und kriminellen Fraktionen» als Daech bezeichnet (s.Kasten). Denn vom «Islamischen Staat» zu sprechen, bedeute «ganz ihrer Propaganda» zu folgen.
Letzten Samstag hatten seine Stiftung und verschiedene Vereinigungen in Genf zu einer «Demonstration der Empörung» aufgerufen. Rund 100 Personen folgten dem Aufruf. Das waren zwar nur wenige, aber die Organisatoren präzisierten, es habe sich um eine «erste Initiative» gehandelt, um die Verquickung aus Islam und «Terror und ethnische Säuberung» anzuprangern. Diese treffe nicht nur die Christen, sondern auch und zuerst andere Muslime.
Der Liberale und der Gläubige
Mohamed Hamdaoui, der im Süden Algeriens geboren ist, kennt sie gut, diese Gewalt. Anfangs September veröffentlichte der Journalist, der auch Abgeordneter im Bieler Stadtparlament und im Parlament des Kantons Bern ist, in der Tageszeitung Le Temps einen Meinungsbeitrag unter dem Titel «Non, je n’ai pas tué James Foley» (Nein, ich habe James Foley nicht getötet) [der erste US-Journalist, der von IS enthauptet wurde]. Mit an Voltaire erinnernden Akzenten ruft er in dem Beitrag die Muslime, die «vom Licht angezogen werden und die Freiheit lieben, die erdrückende Mehrheit, die doch viel zu leise ist» auf, «von allen Dächern herunter zu schreien, dass wir natürlich solche Gräueltaten verurteilen».
«Meine Botschaft ist nicht religiös. Ich bin ein säkularer Muslim, wenn Sie wollen, oder ein liberaler», erklärt er. «Was mich nicht davon abhält, mich zutiefst als Muslim zu fühlen. Wenn die Zeit des Eid al-Adha (Opferfest) kommt, hole ich meinen Couscous-Topf hervor und lade meine Freunde ein…», sagt er und fügt mit einem Lächeln hinzu: «Wenn man Mohamed heisst, ist es schwierig, anders zu handeln…»
«Ich möchte den Leuten sagen ’sprecht darüber in Euren Geschäften, Schulen, Sportclubs, in Eurem kulturellen, gemeinschaftlichen und emotionalen Leben… Sagt den andern, dass wir erstens die Gegenpole dieser Bastarde sind, und zweitens, dass wir selber sehr oft die ersten Opfer dieser Leute gewesen sind.»
Auch wenn er nicht als Sprecher für irgendjemanden gesehen werden will, ist Mohamed Hamdaoui ein typischer Vertreter eines bestimmten Islams in der Schweiz: Er ist völlig integriert, stolz auf seine Kultur und praktiziert seine Religion nicht oder kaum. Dies in einem Land, in dem gemäss einer StudieExterner Link der Eidg. Kommission für Migrationsfragen von 2010 nur etwa 10 bis 15% der Muslime ihre Religion streng praktizieren.
Zu diesen gehört Hani Ramadan, der Direktor des Islamischen Zentrums in GenfExterner Link. Seine Verurteilung der Gewalt des IS ist aber nicht weniger klar. Für ihn bringen diese Leute die vom Propheten offenbarte Religion in Misskredit. «Die Worte Kalif, islamischer Staat und Dschihad sind im Islam noble Ausdrücke, Worte voller Bedeutung, Kultur und Wissen. Und in diesem Fall werden sie zu Geiseln der Barbarei und machen es möglich, vom Islam ein derart negatives Bild zu zeichnen.»
Die «schrecklichen» Exekutionen der Journalisten, die «man verurteilen muss», sind für ihn aber auch ein Beispiel dafür, dass man «den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht, die 2200 Toten in Gaza, die 300’000 oder mehr Toten in Syrien, für welche die internationale Gemeinschaft nichts tut», sagt er. «Das ist eine Art des selektiven Humanismus, den man in den Vordergrund rücken kann, weil man diese Bilder von enthaupteten Menschen hat, die alles andere überdecken. Doch wenn man die Dinge miteinander vergleicht, wird offensichtlich mit zweierlei Mass gemessen.»
Abgesehen davon sei der Aufschwung des IS gerade zum richtigen Zeitpunkt gekommen, «um eine Politik der Einmischung zugunsten der amerikanischen Allianz und des Zionismus in der Region zu fördern», erklärt Hani Ramadan und verweist auf einen Eintrag unter dem Titel Quand le ‹djihadisme› sert l’allianceExterner Link (Wenn der Dschihadismus der Allianz dient), den er im August für seinen Blog verfasst hat. Seiner Ansicht nach machen es «die abartigen Grausamkeiten in Irak und in Syrien» möglich, «ein Eingreifen zu rechtfertigen – schrittweise, denn es wird andauern müssen, wie im Fall von Bin Laden – und das Bild des Yankee als Befreier zu erneuern».
Verantwortung übernehmen
Die freie Journalistin und Mitbegründerin des Forums für einen fortschrittlichen IslamExterner Link in Zürich, Jasmin El-Sonbati, verweist auf Verschwörungstheorien. «Diese sind in der arabischen Welt weit verbreitet, in den Medien, in Talkshows am Fernsehen. Es ist immer irgendwie diese Art und Weise, keine Verantwortung übernehmen zu wollen, sondern zu sagen, ‹es sind die anderen»›, erklärt sie.
«Aber als Muslime haben wir auch eine Verantwortung zu tragen. Die aktuelle Tendenz ist, zu versuchen, den wahren Islam als einen friedlichen Islam zu definieren und zu sagen, dass diese Dschihadisten-Strömungen marginal seien… Aber nein, auch das ist der Islam, und es ist eine Tendenz, die sich seit Jahrzehnten abgezeichnet hat, in den Golfstaaten, in Saudi-Arabien, wo der wahhabitische Islam propagiert wird, sehr strikt, sehr streng. Und mit dem Einfluss dieser Länder hat er sich auch in anderen muslimischen Ländern und in Europa ausgebreitet.»
Auch Jasmin El-Sonbati ist «sehr schockiert», dass junge Leute – darunter auch einige Frauen – Europa verlassen, um sich diesen «barbarischen Horden, die im Namen Gottes töten», anzuschliessen. «Ich finde, dass die muslimischen Gemeinschaften in Europa dieser Tendenz gegenüber etwas blind sind. Auch wenn es in der Schweiz nicht so viele davon gibt, was für junge Leute in England oder Frankreich verlockend scheint, muss auch auf Junge in der Schweiz zu treffen.»
Dennoch hält die Autorin des Buchs «Moscheen ohne Minarett – Eine Muslimin in der Schweiz»Externer Link an ihrer Religion fest. Sie vertrat ihren Standpunkt jüngst in einem Beitrag unter dem Titel «Warum ich trotzdem Muslimin bleibe» in der Weltwoche. Ihre Antwort ist einfach: Weil sie den Islam nicht den Fundamentalisten überlassen will, denn «Allah hat uns alle mit einem Verstand ausgestattet. Wir sollten ihn dazu verwenden, unsere Religion ab und zu einer «Qualitätskontrolle» zu unterziehen.»
Hafid Ouardiri: «Wir haben Treffen mit den jungen Leuten. Dabei unterrichten wir sie, wie sie ihren Glauben mit ihrem Gemeinsinn versöhnen können. Wir müssen sehr aufmerksam sein, was den psychologischen Zustand unserer jungen Leute angeht, von denen einige Frustrationen, Ausgrenzungen, Ablehnungen verkraften müssen. Solche Frustrationen werden von den Extremisten instrumentalisiert, indem sie den jungen Leuten sagen: ‹Ihr tut alles, damit ihr anerkennt werdet und letztlich werdet ihr trotzdem an den Rand gedrängt›. Es bleibt viel grundlegende Arbeit zu tun, um diese Indoktrinierung zu entschärfen.»
Hani Ramadan: «Dies ist eine Falle, in die man nicht tappen darf. Der Islam kennt keine solchen Methoden, der Islam respektiert die Minderheiten. Diese Leute von Daech begehen Gräueltaten in den muslimischen Bevölkerungen, bevor sie die Minderheiten angreifen. Dies kann überhaupt kein hehrer Kampf und keine gerechte Sache sein.»
Hisham Maizar: «Diese jungen Menschen werden von Gruppen, die wir nicht kennen, einer Gehirnwäsche unterzogen. Würden wir sie kennen, könnten wir etwas dagegen tun. Aber die Jungen konsumieren Bilder und Ideen, die von aussen kommen, über das Internet oder das Fernsehen. Wir müssen unablässig damit fortfahren, zu erklären, was der Islam ist, und auch was er nicht ist.»
(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)
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