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«Nach dem Schwingfest zieht die Karawane weiter»

Matthias Sempach: Der neue 'König' und Star der traditionsbewussten (Deutsch-)Schweizer. Reuters

Auch am Tag nach dem "Eidgenössischen Schwingfest" dominieren die starken Männer die Titelseiten der deutschsprachigen Presse. Mit Hilfe der Medien hat Schwingen am Wochenende die Massen erreicht und den Traditionssport zum grössten nationalen Event gemacht.

Matthias Sempach: Vor wenigen Tagen noch war dieser Name nur im begrenzten Kreis eingefleischter Schwinger ein Begriff. Heute ist er in aller Munde. Fast in jeder Tageszeitung strahlt der neue Schwingerkönig von  der Titelseite. Der Grossanlass hat ihn in zwei Tagen zum Star gemacht.

«Matthias Sempach schwingt obenaus», «Der Komplette», «Die Mission bestechend erfüllt», «Ein königlicher Auftritt», loben die Zeitungen unisono. Und die Boulevard-Zeitung Blick widmet dem 27-jährigen, 1,94 Meter grossen und 110 Kilogramm schweren Berner Sportler mehrere Seiten und lässt in fast alle Bereiche seines Lebens blicken.

«Einen derart dominanten Auftritt hatte es in der Geschichte des Eidgenössischen nur einmal gegeben – 1969 von Ruedi Hunsperger», lobt der Tages-Anzeiger. «Sempach durfte als Sieger den prächtigen Muni (Stier) ‹Fors vo dr Lueg› entgegennehmen. Der gelernte Metzger hatte in den letzten zehn Monaten alles auf dieses Ziel ausgerichtet, nur noch Teilzeit gearbeitet und sein Training intensiviert.»

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Viel Jubel, leise Kritik

Mit dem Burgdorfer Grossanlass war Schwingen auch auf den Titelseiten einiger Medien in der Westschweiz Thema, wo der Traditionssport sonst nur eine Randerscheinung ist. «Werden wir uns demnächst alle dem Jodeln und Schwingen hingeben?», fragt die Tribune de Genève und meint: «Man könnte es fast glauben angesichts der Deutschschweizer Medienberichterstattung über das Eidgenössische Schwingfest 2013.»

Der Sieg am Schwingfest werde das Leben des neuen «Königs» verändern, schreibt der Express de Neuchâtel. Der Grund dafür sei nicht in erster Linie der Gewinn eines Stiers im Wert von 20’000 Franken, sondern die Kapitalisierung des Erfolgs durch die Sponsoren. Heute hätten die Marketing-Experten auch beim Schwingen Lunte gerochen und verstünden es, die Glanzleistungen der kräftigen Männer umzumünzen.

300’000 Personen hätten am Wochenende das Festgelände besucht, und mit 52’000 Zuschauerplätzen sei die Schwinger-Arena im Berner Städtchen Burgdorf weltweit das grösste temporäre Stadion gewesen, betonen die Medien seit Tagen. Trotzdem zweifeln einige Kommentatoren, ob der Sport, der bisher fast nur in ländlichen Gebieten der Deutschschweiz viele Anhänger hatte, über Nacht zum Breitensport geworden sei.

«Das Geschehen in der Arena lässt den unkundigen Zuschauer über weite Strecken ratlos», schreibt die Neue Zürcher Zeitung. «Sein Blick irrt zwischen den sieben Sägemehlkreisen hin und her; er sieht in ordentlicher Distanz Männer, die sich umklammern. Wer nichts von Schwingen versteht, ist am Eidgenössischen überfordert.»

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Trotz Event wenig populär

Und dies dürften nicht wenige gewesen sein, vermutet die NZZ. Auch der Schwinger-Verband könne nicht verhindern, dass sich unter die Kundigen immer mehr mischten, «die sich im Glanz des Anlasses sonnen wollen. Er profitiert von der finanziellen Wucht der Sponsoren, die Politiker und Prominenz einladen».

Ihr Aufmarsch sei ein Indiz dafür, dass das Eidgenössische nicht mehr nur Sportanlass, sondern auch Event geworden sei. Aus dem riesengrossen Interesse der letzten Tage abzuleiten, «dass Schwingen populär sei, wäre aber falsch», meint die Neue Zürcher Zeitung.

«Die Event-Gesellschaft funktioniert wie eine Karawane. Am Wochenende hat sie ihr Interesse auf das Schwingfest gerichtet; sie wird weiterziehen – angetrieben von den Medien.» In ein paar Tagen werde das Interesse der breiten Masse verschwunden sein.   

Dass der Amateursport mit der Professionalisierung seine Unschuld verloren habe, stellen mehrere Zeitungen fest. «Auch am Publikum geht die Professionalisierung nicht spurlos vorüber», vermerkt die Basler Zeitung und fragt rhetorisch: «Droht dem Sport das, was US-Politologen in ganz anderem Zusammenhang ‹imperiale Überdehnung› genannt haben? Wird er seiner urchigen Kraft verlustig gehen? Die Schwingergemeinde scheint es zu befürchten: Freude an der friedlichen Atmosphäre einerseits und Angst vor zu viel Grösse andererseits, diese widerstreitenden Gefühle sind es, die an diesem Nachmittag dominieren», so die BaZ.

Einen Spagat zwischen Brauchtum und Moderne stellt auch die Aargauer Zeitung fest. In ihrem Innern sei die Arena «völlig frei von Werbung und somit der eigentliche Hort der Tradition. Er gleicht in der ansonsten oft kommerzialisierten Welt des Spitzensports schon fast einer Insel». Aber rund um das Sportstadion «tummelten sich Hunderttausende von Besuchern auf dem Fest-Areal». Vermutlich seien sämtliche Schwingfest-Umsatzrekorde gebrochen worden, folgert die AZ.

«Realitätsferne Schweiz»

«Dieses Fest ist eine Inszenierung der helvetischen Klischees. Der (Deutsch-)Schweizer feiert vor allem seine kulturellen Eigenheiten, als ob er den Besucher erinnern möchte, dass sich hier die Schweiz, die echte Schweiz befinde», schreibt Le Matin. «Eine Insel der Resistance, so gross wie der letzte Sägemehlkreis, in einer Zeit, in der die fundamentalen Werte des Landes auf internationaler Ebene einer strengen Probe ausgesetzt sind.»

Die Lausanner Tageszeitung zweifelt aber, ob die Westschweizer diese ‹wahre und authentische Schweiz›, die derart weit von der Realität unserer aktuellen Gesellschaft entfernt sei, mit der gleichen Festigkeit feiern werden, wenn der Wettkampf in drei Jahren in ihrer Region, nämlich in Estavayer-le-Lac, ausgetragen werde.   

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