Vom Podest auf den Arbeitsmarkt
Sie nimmt an den olympischen Winterspielen teil und war drei Mal Weltmeisterin. Aber eines Tages wird sie eine Stelle suchen müssen. Virginie Faivre denkt schon heute über diesen Wechsel nach. Sie wünscht sich, wie viele andere Athletinnen und Athleten auch, dass die Schweiz mehr tun würde, um den Sportlerinnen und Sportlern das Studium zu erleichtern.
Rücktritt ist nicht das erste Wort, das der 33-jährigen Faivre beim Treffen mit swissinfo.ch in den Sinn kommt. Die Freestyle-Skifahrerin und mehrfache Weltmeisterin hat an der Hochschule begonnen, sich darüber Gedanken zu machen. «Ich übe einen Sport aus, der dem Körper viel abverlangt und bei dem das Verletzungsrisiko gross ist», sagt sie. «Ich kann das nicht mein Leben lang tun. Deshalb war mir immer bewusst, dass ich eine Ausbildung brauche und einen Job suchen muss.»
Die Schule zu verlassen, um sich gänzlich dem Skifahren zu widmen, war keine leichte Entscheidung. Ihrer Familie hatte sie erklärt, dass sie im Alter von 25 Jahren zum Studium zurückkehren werde. Aber als dieser Zeitpunkt kam, war sie noch immer mitten drin.
Ein Online-Buchhaltungskurs schien ein praktischer Kompromiss zu sein. Zu diesem Zeitpunkt hatte Faivre ihr dreijähriges Studium abgeschlossen – wobei sie den grössten Teil des Stoffes wegen sportlicher Verpflichtungen in den letzten sechs Monaten paukte. Sie wusste, dass sie nie Buchhalterin werden würde.
Später hinderte sie eine Verletzung während drei Monaten daran, die Universität Lausanne zu besuchen, um ein Zertifikat in Advanced Studies für Sportmanagement zu erhalten.
Dann kamen 2014 die Olympischen Winterspiele in Sotschi. Nach ihrem vierten Platz hat Faivre weiterhin an Wettkämpfen teilgenommen und ein Online-Studium für einen Masterabschluss – auch für Sportmanagement – am Johan Cruyff-Institut in Barcelona begonnen. «Wenn du Profisportlerin bist, betrachten sie deine Erfahrung als gleichwertig mit einem Bachelor-Abschluss», erklärt sie.
Studium und Ausbildung
Aber Studium, Training, Wettkämpfe, Sponsoringverträge unter einen Hut zu bringen, ist fast unmöglich, besonders im Winter.
«Wir sind oft unterwegs. Deshalb ist es nicht einfach, einen Studienplatz zu finden», sagt sie. «Wir trainieren bis 14 Uhr, essen, machen eine kurze Pause, dann folgt das Konditionstraining fast bis zum Abendessen. Oft sind wir danach müde, und es fällt schwer, sich zu konzentrieren.»
Faivre stellt aber fest, dass die Schweiz etwas zu unternehmen beginnt, um das Studieren für Athleten zu erleichtern, allerdings nur in deutschsprachigen Kantonen.
Das Konzept für eine duale Karriere, bei dem Elite-Sportler Sport und Studium oder Arbeit miteinander vereinbaren können, wird von der Europäischen Union gefördert. Diese empfiehlt den Regierungen, Sportinstitutionen, Bildungseinrichtungen und Arbeitgebern, für Doppelkarrieren ein geeignetes Umfeld zu schaffen.
Die EU-Richtlinien, welche die Schaffung eines rechtlichen und finanziellen Rahmens empfehlen, stützen sich auf Forschungsergebnisse, die zeigen, dass spezielle Programme für Doppelkarrieren zur besseren gesundheitlichen und sozialen Entwicklung der Sportler beitragen. Diese Programme ermöglichen es den Athleten auch, sich nach dem Ende ihrer Sportkarriere besser an ihr neues Umfeld anzupassen.
Laut Faivre sollten Schweizer Sportler beim Übertritt in ein neues berufliches Umfeld, das auch emotional schwierig zu meistern ist, bessere Unterstützung bekommen.
Ähnliche Erfahrungen machte der Schweizer Judo-Sportler Sergei Aschwanden, der im Alter von 32 Jahren nach dem Gewinn der Bronzemedaille bei den Olympischen Spielen 2008 vom internationalen Wettkampf zurücktrat. Er vertiefte sich ins Studium, erlangte den Bachelor und anschliessend den Master für Sport-Management. Aber finanziell war er nicht auf Rosen gebettet. «Ich habe mich noch nicht von diesen fünf schwierigen Jahren erholt», gesteht Aschwanden, der heute Direktor eines Sportzentrums im Kanton Waadt ist. Die Situation habe sich für die Sportler inzwischen verbessert, sei aber noch nicht optimal.
«Der Vor- oder Nachteil des politischen Systems der Schweiz ist, dass die Kantone in vielen Dingen selber bestimmen. In Bezug auf sportliche Doppelkarrieren würde ich mir nationale Richtlinien wünschen.»
Um Athleten weltweit nach ihrer Sportkarriere zu unterstützen, führt das Internationale Olympische Komitee (IOC) seit 2005 ein Sport-Karriere-Programm durch.
Sport-Karriere-Programm
2015 waren 70% der Schweizer Elite-Sportler erfolgreich, die eine Teil- oder Vollzeitstelle mit Hilfe des Athleten-Karriere-Programms suchten. Fast 1400 benutzten das Online-Angebot des Programms. Swiss Olympics zertifiziert Schulen und Unternehmen, die Doppelkarrieren unterstützen. Derzeit werden vier Internate mit dem Label Swiss Olympic Sport School ausgezeichnet, 45 staatliche Schulen haben das Label Swiss Olympic Partner School erhalten.
Das Nationale Olympische Komitee hat auch 300 Unternehmen ausgezeichnet, die für Sportler spezielle Lehrstellen anbieten. Derzeit gibt es 400 Athleten-Ausbildungen in rund 60 Berufen.
Faivre und Aschwanden bezeichnen es zwar als gut. Aber es müsse besser kommuniziert werden, «Das IOC macht gute Arbeit, und das Programm wird weiter entwickelt», sagt Faivre. «Aber die Informationen gelangen nicht zu uns, wir müssen sie abholen.»
Nationale Olympische Komitees sind dafür verantwortlich, die Programme zu liefern und persönliche Dienstleistungen zu erbringen.
Sie habe das Angebot auf der Website von Swiss Olympic entdeckt, dem Nationalen Olympischen Komitee und Dachverband der Sportverbände.
Patrick Bruggmann, Leiter Athleten- und Karrieresupport bei Swiss Olympic, teilt die Meinung, dass die Sportverbände, Kantone und Schulen besser und effizienter informieren sollten. «Es gibt sicher Möglichkeiten zur Verbesserung», räumt er ein.
Sportler können von Voll- und Teilzeitstellenvermittlung oder Praktika, sowie von der Beratung des Karriere-Support-Teams von Swiss Olympic profitieren. Laut Bruggmann gibt es auch ein Netzwerk von Beratungs- und Karrierezentren mit Fachleuten, die sich speziell mit Elite-Athleten beschäftigen.
Swiss Olympic arbeitet mit dem Schweizerischen Universitätssportverband (SHSV) an einem Konzept zur besseren Vereinbarung von Leistungssport und Studium. Einige Universitäten bieten laut Bruggmann heute flexible Lösungen an mit speziellen Vorschriften für Sportler.
Frankreich sei in dieser Beziehung weit voraus, sagt Faivre. 2004 lancierte die französische Regierung einen sogenannten Leistungspakt, eine Initiative, um Unternehmen zu ermutigen, Athleten zu unterstützen, die 2016 in Rio teilnehmen wollten. Die Unternehmen unterzeichnen entweder Image-Verträge mit den Sportlern oder bieten ihnen flexible Arbeitsverträge an mit der Verpflichtung, diese nach deren Rücktritt anzustellen.
Ein solches Programm könnte laut Bruggmann auch für die Schweiz in Betracht gezogen werden. Swiss Olympic suche derzeit Unternehmen, die bereit sind, mit Sportlern flexible Teilzeitverträge abzuschliessen.
Swiss Olympic hat sich zum Ziel gesetzt, dass sich das Schweizer Team an den Olympischen Winterspielen unter den acht besten Nationen platziert und unter den Top 25 bei den Olympischen Sommerspielen.
Ob die ehrgeizigen Ziele erreicht werden können, hängt auch davon ab, ob es gelingt, die talentierten Sportler zu halten. Gemäss Recherchen des Hochschulinstituts für öffentliche Verwaltung gehen die Athleten grosse Risiken ein, indem sie sich auf den Sport konzentrieren, während die meisten anderen Gleichaltrigen ihre Berufskarriere aufbauen.
Die neuen Angebote zur besseren Vereinbarung von Sport und Ausbildung bzw. Beruf helfen mit, dieses Risiko zu senken.
(Übertragung aus dem Englischen: Peter Siegenthaler)
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