«Ich bin zu 100 Prozent US-Swiss»
Die Präsidentin des grössten Schweiz-Centers in Amerika weinte, als sie zum ersten Mal auf dem Hof ihres Urgrossvaters im Emmental stand. Aber auch, als der Organist in Einsiedeln die US-Hymne spielte.
Wenn Beth Zurbuchen in einem Flugzeug von der Schweiz nach Amerika sitzt und neben ihr Kinder quengeln, dann denkt sie: «Beth, hör auf, dich zu ärgern, du sitzt in einem Flugzeug, nicht in einem Schiff.» Auf gut Englisch sagt sie auch: «We got fat and lazy, man!» Fett und faul sei man geworden.
Beth Zurbuchen ist Amerikanerin und doch Vollblut-Schweizerin. Sie ist Präsidentin des grössten Schweiz-Centers auf dem amerikanischen Kontinent, des Swiss Center of North America in New Glarus, Wisconsin.
Aus dem Emmental, aus Glarus, Andeer und dem Thurgau reisten ihre Vorfahren in die USA.
Genetisch ist sie hundert Prozent Schweizerin wegen ihrer Urgrosseltern. Aus dem Emmental, aus Glarus, Andeer und dem Thurgau reisten ihre Vorfahren nach Amerika. Das war in den Jahren zwischen 1882 und 1893.
Beths Grossvater Rudolph kam 1923 in die USA. Der Landwirt aus Trachselwald im Emmental bestieg in Cherbourg, Normandie, einen Dampfer nach New York und bezahlte für die Reise total 1096 Franken. Er ging zu seiner Schwester, die schon in Wisconsin lebte. Denn als Jüngster einer Bauernfamilie gab es für ihn kein Auskommen im Emmental.
Kein Vorfahre bestieg das Schiff nach Amerika wirklich freiwillig. Beths Urgrossmutter Barbara Andrea aus Andeer kam zu ihrem Bruder nach Wisconsin, nachdem ihre beiden Eltern gestorben waren und weil sie nicht wie die übrigen Geschwister in Graubünden als Bedienstete arbeiten wollte. Sie gebar 16 Kinder, eines starb, ihr Mann Christian, ein Emmentaler, später auch.
«Sie musste hier überleben», sagt Beth Zurbuchen. Es hiess, sie sei eine strenge und ruppige Frau gewesen, ständig habe sie etwas zu kritisieren gefunden. «Sie ist trotzdem ein Vorbild für mich», sagt Beth.
Nicht nur wegen der Schoggi
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Beth, die sich amerikanisch-kumpelhaft überall nur mit dem Vornamen vorstellt, ist keine naive Schweiz-Liebhaberin. Das heisst, sie schwärmt schon für Schokolade, Berge und Kuhglocken. Aber ihre Leidenschaft für die Schweiz kommt von ihrer Migrationsgeschichte. «Ich fühle mich durch die Einwanderung meiner Urgrosseltern Teil von etwas Grösserem. Dieser Mut ist in meiner DNA und es macht mich stark», sagt sie und zweifelt doch, ob sie den Mut hätte, ein Einweg-Ticket in ein unbekanntes Land zu lösen.
Ihr Swiss Center in New Glarus erzählt viele dieser Einwanderergeschichten. Hier gibt es eine Bibliothek und einen Ausstellungsraum mit typischen Schweizer Gegenständen – nur dass diese aus Amerika stammen, geschaffen von Exil-Schweizern, die ihre Heimat exportierten: Trachten, ein Foto des Turnfests in Ohio 1868, eine alte handgestickte Fahne des Rütli-Vereins Detroit und Schützenfest-Kränze.
Wer bin ich?
Ihre Vergangenheit ist Beth noch nicht lange bewusst. Wenn früher ihre Grosseltern zu Besuch kamen, merkte sie als Mädchen bloss, dass sie das Swiss German nicht verstand. Sie hörte ihre Grossmutter jodeln, wusste, dass der Grossvater ein guter Sportschütze und Turner war, aber es interessierte sie noch nicht. Heute reut sie das. «Hätte ich sie doch gefragt: Wer seid ihr? Und warum tut ihr seltsame Dinge?»
Als sie 2008 Präsidentin des Swiss Center of North America wurde, hatte sie die Schweiz noch nie besucht. Erst 2010 stand Beth zum ersten Mal vor dem Hof im Emmental, von wo ihr Grossvater Rudolph nach Übersee aufgebrochen war. Heute gehört er ihrem Coucousin. «Ich schaute mich um, diese Landschaft, der Hof meines Urgrossvaters … natürlich kamen mir die Tränen.»
«Ich schaute mich um, diese Landschaft, der Hof meines Urgrossvaters … natürlich kamen mir die Tränen.»
Seither kommt sie mindestens jedes zweite Jahr in die Schweiz. Zwei Dutzend gute Freunde habe sie mittlerweile und vergesse jeweils, dass sie Amerikanerin sei, wenn sie durchs Land reise. Unter anderen Umständen, sagt sie, würde sie in die Schweiz ziehen.
Aber es geht ihr wie den meisten Migranten: Schon die zweite Generation ist im neuen Land verwurzelt. In Wisconsin hat Beth ihre Familie mit zwei Töchtern, hier spricht man ihre Muttersprache. Sie sagt: «Ich bin Amerikanerin, aber die Schweiz ist meine Heimat. Ich bin zu 100 Prozent US-Swiss.»
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Letztes Jahr in Einsiedeln hat sie das stark gespürt: Sie besuchte die Klosterkirche mit ihrer Tochter Molly und einer Schweizer Freundin. Diese kannte den Organisten. Es war der 3. Juli, ein Tag vor dem amerikanischen Nationalfeiertag. «Der Organist setzte sich und spielte die amerikanische Nationalhymne während zehn Minuten in allen Variationen.» Beth hatte wieder Tränen in den Augen.
Streit über Migranten und Trump
Die beiden Heimaten schmerzen nicht, nein, sie liebt die vielen Kontakte, die sich daraus ergeben. Täglich kommen Anfragen von Amerikanern, die in der Schweiz nach ihren Wurzeln suchen wollen. Sie ermuntert sie dazu, hilft, wo sie kann. Denn sie findet: «Wenn sie sich als Teil einer grösseren Gesellschaft fühlen, macht sie das zu besseren Menschen.»
Aber es macht nicht automatisch toleranter gegenüber den heutigen Migranten in den USA. Ihre Geschwister und sie kriegen wegen der mexikanischen Migranten oft Streit mit der Mutter. Die Geschwister sagen: «Mom, unsere Vorfahren kamen auch nur hierher für ein besseres Leben.» Dann sagt die Mutter: «Ja, aber sie kamen legal!» Ach was, antworten die Geschwister dann, «der eine Urgrossvater hatte zwar die Immigrationspapiere, aber aus dem Ausreisezentrum ist er einfach abgehauen, weil er die Gebühren nicht bezahlen konnte.»
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Und die ausländischen Kinder von heute seien doch wie ihre Grosseltern, die ankamen und kein Wort Englisch sprachen. «Wo liegt der Unterschied? Die Kinder brauchen Bildung!», sagen sie. Aber die Mutter lässt sich nicht von ihrer Einstellung abbringen. Beth sagt: «Sie glaubt Trumps Fake-News.» Und sie weiss, dass die Migranten der ersten Generationen eher schützen wollen, was sie erreicht haben.
Die Diskussion Trump oder nicht spaltet nicht nur ihre Familie. «Manche Freunde habe ich nur nicht verloren, weil ich nie mit ihnen darüber spreche», sagt Beth. «Ich wünschte mir, die Amerikaner hätten eine Diskussionskultur wie die Glarner an der Landsgemeinde. Dass sie lernen, uneinig zu sein und trotzdem friedlich miteinander zu leben. Die Diskussion ist völlig aus dem Ruder gelaufen. Sie spaltet das ganze Land.»
Und was könnten die Schweizer von den Amerikanern lernen? «Es heisst, man könne in der Schweiz in einem Block leben und die Nachbarn nach Jahrzehnten noch mit dem Nachnamen begrüssen. Etwas weniger formell zu sein, täte ihnen sicher gut», sagt Beth.
Die Einzige ihrer Urgrosseltern, übrigens die, die für einen Besuch nach dem Krieg 1946 zurück in die Schweiz reiste, war die strenge Barbara Andrea Zurbuchen. Sie fand eine Schweiz vor, die in vielen Beziehungen nicht mehr derjeningen ihrer Erinnerungen entsprach. Sogar das Schweizerdeutsch hatte sich verändert. Und Grossvater Rudolph, der in den 1960ern einmal zurückreiste, konnte kaum glauben, dass die Schweiz jetzt auch eine Autobahn hatte.
Dieser Artikel erschien erstmals am 31. Juli 2017 in der Aargauer Zeitung.Externer Link
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