Wie die Schweizer aus Schokolade Gold machen
Fast allen Schweizern ist er ein Begriff: Der Schoggitaler. Seit 70 Jahren hilft der Verkauf dieses Schokoladenstücks in Münzform, Naturräume zu erhalten und Baudenkmäler zu schützen. Der Erfolg dieser Aktion verdankt sich dem Einsatz von Tausenden von Schülern, die jedes Jahr die Schoggitaler verkaufen.
Es klingelt an der Tür. «Schönen guten Tag: Wollen Sie Schoggitaler kaufen?»- «Ja, klar, ich nehme vier.» Diese Szene ist in Schweizer Haushaltungen bestens bekannt. Fast alle greifen zu. Denn wie kann man Schülern das Angebot ausschlagen, wenn sie in goldenes Aluminium eingepackte Schokoladenstücke für einen guten Zweck anbieten.
Jedes Jahr im September sind Tausende von Schülerinnen und Schüler im Alter von 9 bis 12 Jahren in allen Landesteilen unterwegs, um Schoggitaler unters Volk zu bringen. Das Stück kostet fünf Franken.
Die Einnahmen kommen Projekten des Schweizer Heimatschutzes und Pro Natura zu Gute. Die beiden Verbände haben die Aktion 1946 ins Leben gerufen, Pro Natura als Naturschutzverband, der Schweizer Heimatschutz als wichtigste Vereinigung zum Schutz der einheimischen Baudenkmäler.
Jedes Jahr gibt es ein Talerthema. «Dieses Jahr ist das Jahr der Gärten und Pärke. Es geht darum, die Bevölkerung mittels vielfältiger Aktionen für die Bedeutung von Grünflächen zu sensibilisieren», sagt Eveline Engeli, Geschäftsleiterin der Stiftung Schoggitaler.
Retten wir den Silser See
Gegründet wurde die Aktion 1946. Der Schoggitaler kann somit auf eine 70 Jahre lange Tradition zurückblicken. Um dieses Jubiläum zu feiern, haben Pro Natura und der Schweizer Heimatschutz Anfang März eine Broschüre publiziert, welche die Geschichte detailliert nacherzählt – eine Geschichte, die im Engadin begonnen hat.
Alles begann mit dem bekannten Silsersee, an dessen Ufern bereits der Philosoph Friedrich Nietsche während seiner Aufenthalte im Oberengadin entlang spazierte. Sicherlich hätte der See ohne den Schoggitaler viel seiner Faszination verloren. Denn 1946 hätte der Silsersee im Oberengadin gestaut werden solle, was die einzigartige Seenlandschaft durch Wasserkraftbauten entstellt hätte.
Die Gegner dieses Projekts konnten die beiden Standortgemeinden – Sils und Stampa – davon überzeugen, auf den Staudamm zu verzichten, wenn sie für die entgangenen Wasserzinseinnahmen mit 300‘000 Franken entschädigt werden.
Doch woher sollte der Betrag kommen? Die Spendenbereitschaft der Bevölkerung war wegen der Hilfe für die Kriegsopfer bereits auf eine harte Probe gestellt. Ausserdem erschien dieses Anliegen zum damaligen Zeitpunkt nicht so wichtig.
Doch Ernst Lauer, damals Generalsekretär des Schweizer Heimatschutzes, hatte eine geniale Idee. War es nicht möglich, ein Produkt zu verkaufen, das alle wollten, das aber schwer zu ergattern war: Schokolade. Bundesrat Walter Stampfli und die ihm unterstellten Ämter für Rationierungswesen und Kriegsernährung liessen sich für die Idee gewinnen und gaben 20 Tonnen der damals rationierten Schokolade frei.
Verpackt in goldene Aluminiumfolie mitsamt einem Aufdruck des Silser Sees wird der erste Schoggitaler im Februar 1946 landesweit über 20‘000 Mal verkauft. Nach Abzug der Kosten betrug der Reinertrag aus dem Verkauf von 823‘420 Schoggitalern fast eine halbe Million Franken. Der Erfolg war phänomenal. Der Silser See war gerettet.
Eine einzigartige Initiative
Seither dient die Schoggitaleraktion beiden Organisationen als feste Einnahmequelle und wichtiges Sensibilisierungsinstrument für ihre Projekte und Aufgaben zum Wohle der Allgemeinheit. 1950 konnte es auf diese Weise ermöglicht werden, dass die Brissago-Inseln im Tessin in die öffentliche Hand übergehen. 1969 erlaubte die Schoggitaleraktion die Finanzierung von wichtigen Renovierungsarbeiten des Klosters San Giovanni in Müstair (Graubünden), das später Weltkulturerbe der UNESCO wurde.
Für die Initiative von Pro Natura und Heimatschutz dürfen sich auch etliche Tiere bedanken. 1957 diente der Erlös aus der Schoggitaleraktion der Wiederansiedelung der Biber in der Schweiz. Es gab Aktionen zum Schutz von Schmetterlingen, Fröschen und Amphibien.
Die Idee, die Schulen für den Verkauf von Schoggitalern einzuspannen, war sicherlich eine geniale und einmalige Idee. «Ich bin seit drei Jahren Geschäftsführerin, aber ich habe noch nie von ähnlichen Aktionen von Schülern in anderen Ländern gehört. Ich kann es zwar nicht ausschliessen, aber bekannt sind mir solche Aktionen nicht», sagt Eveline Engeli.
Verkäufe rückläufig
Seit einigen Jahren durchläuft aber auch die Schoggitaler-Aktion eine Krise. Konkurrenzprojekte sind aufgetaucht. «Die besten Jahre waren zwischen 1980 und 1990. Seither gehen die Verkäufe zurück», hält Engeli fest.
Damals wurden fast eine halbe Million Schoggitaler verkauft, der Stückpreis betrug 3 Franken. Seit 1998 wird der Taler mit Kakao aus fairem Handel (zertifiziert Max Havelaar) hergestellt und kostet fünf Franken.
Im Jahr 2015 haben rund 30‘000 Schülerinnen und Schüler aus 1350 Klassen zirka 328‘000 Taler verkauft. Der Bruttoerlös erreichte 1,6 Millionen Franken (zirka 1 Mio CHF netto).
«Mittlerweile gibt es auch andere Institutionen, die mit den Schulen zusammenarbeiten wollen, beispielsweise Pro Juventute oder der WWF. Die Schulen müssen entscheiden, welche Organisationen sie unterstützen und welches Produkt sie verkaufen wollen, weil sie sich normalerweise auf nur ein Angebot konzentrieren», erklärt Eveline Engeli.
Gemäss der Geschäftsführerin der Schoggitaler-Aktion kommt hinzu, «dass die Lehrer unter Druck sind, neue Lehrpläne in Kraft treten, die Klassen heterogener geworden sind und der Aufwand zur Vorbereitung der Stunden gestiegen ist». Daher seien die Lehrer heute nicht mehr ganz so disponibel, zusätzliche Energie in eine weitere Initiative zu stecken.
Die Kraft der Tradition
Wenigstens konnte 2015 der langjährige Rückgang der Verkäufe gestoppt werden. Das Resultat ist gegenüber dem Vorjahr wieder leicht besser ausgefallen. Positiv ausgewirkt hat sich ein Online-Bestellsystem, wie Engeli betont: «Für die Lehrer ist eine Teilnahme nun leichter. Zudem gibt es kleine Preise für Klassen, die an einem Wettbewerb teilnehmen; in den Schulen werden Animationen durchgeführt, die Lehrenden erhalten frühzeitig Informationsmaterial, damit das jeweilige Talerthema im Unterricht behandelt werden kann, und die Schüler wissen, für welchen Zweck der Erlös aus der Aktion eingesetzt wird.» Zudem erhalten die Klassen 10 Prozent der Einnahmen, die ihnen für eigene Aktivitäten zur Verfügung stehen.
Auch wenn der Schoggitaler den Glanz der Vergangenheit etwas verloren hat, kann er auf einen wichtigen Unterstützungsfaktor zählen. «Viele Lehrer schätzen die Schoggitaler-Aktion, weil sie Tradition hat und schon ihre Eltern beteiligt waren“, meint Eveline Engeli. Denn letztlich blieb sich die Schoggitaler-Aktion in den letzten 70 Jahren stets treu.
Kontaktieren Sie den Autor via twitter @damariani1Externer Link
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch