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Warum die Mafia die Schweiz liebt

Nicola Gratteri
Nicola Gratteri ist 61 Jahre alt und seit 2016 Generalstaatsanwalt der süditalienischen Republik Catanzaro. Tiziana Fabi/AFP

Die italienische Mafia-Organisation 'Ndrangheta operiert seit Jahrzehnten in der Schweiz. Trotz guter Zusammenarbeit mit Italien sei das Schweizer Justizsystem nicht an die kriminelle Realität im eigenen Land angepasst.  Das sagt der italienische Richter und Essayist Nicola Gratteri im Interview.

Nicola GratteriExterner Link war am italienischen Literaturfestival Una Torre di LibriExterner Link im Piemont als Gast eingeladen. swissinfo.ch nutzte diese Gelegenheit, um mit dem Staatsanwalt aus der süditalienischen Provinz Catanzaro über die Präsenz der von dort aus operierenden ‹Ndrangheta in der Schweiz zu sprechen.

swissinfo.ch: Die ‹Ndrangheta operiert schon seit einiger Zeit in der Schweiz. Wann und wie hat sie sich hier eingenistet?

Nicola Gratteri: Seit mindestens Ende der 1980er-Jahre gibt es Spuren der ‹Ndrangheta in der Schweiz. Nach einer Fehde in Monticella, einem kleinen Dorf in der Provinz Reggio Calabria, zog eine ‹Ndrangheta-Familie in die Schweiz und liess sich in der Region Neuenburg nieder.

In diesen Jahren haben wir internationale Rechtshilfe-Gesuche gestellt, sind in die Schweiz gegangen, haben Ermittlungen durchgeführt und es geschafft, zwei Geflohene zu fassen. Für die Schweizer Polizei und Justiz war das eine grosse Überraschung.

«80% des in Europa ankommenden Kokains sind in den Händen der ‹Ndrangheta.» 

swissinfo.ch: In der Vergangenheit gab es in der Schweiz Prozesse und Verurteilungen. Zum Beispiel wurde der Anwalt Francesco Paolo Moretti wegen der Geldwäsche von 75 Milliarden alten Lire verurteilt. Und es gab zahlreiche Anfragen von italienischer Seite, viele auch von Ihnen.

N.G.: Wenn Leute der ‹Ndrangheta, der Camorra oder der Cosa Nostra ins Ausland gehen, versuchen sie, sich anzupassen. Sie zünden keine Autos an und schiessen nicht auf Fensterläden.

Sie gehen ins Ausland, um als Flüchtlinge Zuflucht zu suchen – weil sie wissen, dass sie nicht kontrolliert werden, da es in Europa keine Kultur der Gebietskontrollen gibt –, oder sie tun dies, um Kokain zu verkaufen und mit den Gewinnen alles aufzukaufen, was zum Verkauf steht.

swissinfo.ch: Ist der Drogenhandel jener Bereich, in dem die Leute der italienischen ‹Ndrangheta in der Schweiz am aktivsten sind?

N.G.: Gemäss den von uns durchgeführten Untersuchungen sind 80% des in Europa ankommenden Kokains in den Händen der ‹Ndrangheta. Das Geld, das sie damit verdienen, geht nicht nach Kalabrien oder Südamerika zurück, denn beispielsweise die kolumbianischen Kartelle wollen in Europa bezahlt werden, weil es praktischer ist. Europa und damit auch die Schweiz wird zu einem grossen Supermarkt, in dem man alles kaufen kann, was verfügbar ist.

swissinfo.ch: Mit Drogengeldern kauft man also Waffen und investiert in Immobilien. Die Geldwäscherei ist einer jener Bereiche, in denen die ‹Ndrangheta am aktivsten ist. Laut Untersuchungen gilt das nicht nur für den benachbarten Kanton Tessin, sondern auch für andere Teile der Schweiz, wie die «Helvetia-Umfrage» 2014 über die Frauenfelder Cosca (Verbrecherkreis) im Kanton Thurgau bestätigt.

N.G.: Über Jahrzehnte haben wir im Bereich Geldwäscherei ermittelt, aber nicht auf eine so ausgeklügelte Weise, wie man es in den Filmen sieht. Die Kontrollen wurden so einfach wie möglich an Personen durchgeführt, die Millionen von Euro physisch in die Schweiz geschafft haben, indem sie damit die Grenze überschritten und die Gelder auf Schweizer Banken deponiert haben.

swissinfo.ch: Macht die Schweiz genügend, um der ‹Ndrangheta und anderen kriminellen Organisationen entgegenzuwirken? Sie selber haben in der Vergangenheit festgehalten, dass bestimmte Straftaten, wie jene von Mafiagruppen, in der Schweiz milder bestraft werden, als im italienischen Rechtssystem.

N.G.: Dieses Problem betrifft nicht nur das schweizerische Justizsystem, sondern ganz Europa, da es im Rechtssystem kein Verbrechen einer mafiaartigen Vereinigung gibt. Das Verbrechen, das einer solchen in der Schweiz am nächsten kommt, ist das eines Geheimbunds.

Eine Mitgliedschaft wird zwischen einem und fünf Jahren bestraft. Eine lächerliche Strafe, wenn man bedenkt, dass sie in Italien jener Strafe entspricht, zu der eine Person verurteilt wird, die mit einer Waffe mit einer abgeschliffenen Seriennummer erwischt wird.

Für die Mafia ist es daher praktisch, in der Schweiz Verbrechen zu begehen, ebenso wie in Mittel- und Nordeuropa. Die Strafen sind viel milder, und das Risiko, ins Visier der Justiz zu geraten, besteht nur, wenn die italienische Polizei Untersuchungen durchführt.

swissinfo.ch: In diesem Zusammenhang ist der Fall des ‹Ndrangheta-Killers von Lamezia Terme, Gennaro Pulice, durchaus bezeichnend. Wie er selbst während seines Geständnisses zugab, kam er dank einer Bewilligung B ins Tessin. An diese war er durch Bestechung eines kantonalen Beamten gekommen.

N.G.: Generell geht man davon aus, dass das Problem der Korruption vor allem die Italiener betrifft. Das ist aber ein veraltetes Klischee. Leider gab es in der westlichen Kultur in den letzten Jahrzehnten in Europa einen starken Rückgang von Moral und Ethik. Und das nicht nur in Italien, sondern in ganz Europa.

In Italien ist das besser sichtbar, weil mehr Untersuchungen durchgeführt werden, es gibt normative Instrumente, die es der Kriminalpolizei und der Justiz ermöglichen, tiefer zu recherchieren.

«In der Eidgenossenschaft, wie in ganz Europa, wird die Mafia der Zukunft aus Albanien stammen.»

swissinfo.ch: In den über 30 Jahren Ihrer Karriere haben Sie mit Polizeikräften und Amtskollegen aus vielen Ländern zusammengearbeitet: Wie ist das Verhältnis zu Ihren Schweizer Kollegen?

N.G.: Ich würde sagen, die Beziehung hat sich in letzter Zeit verbessert: In den letzten Jahren sind die Schweizer Behörden zunehmend auf das Phänomen und das Problem der Mafia auf ihrem Territorium aufmerksam geworden.

Aber leider werden die Schweizer Ermittler, wie ich bereits erwähnt habe, nicht von einem Rechtssystem begünstigt oder unterstützt, das in einem angemessenen Verhältnis zur kriminellen Realität in der Schweiz steht.

swissinfo.ch: Gibt es Verbindungen zwischen den italienischen Mafia-Organisationen in der Schweiz oder spezifische Beziehungen zwischen der ‹Ndrangheta und den anderen kriminellen Vereinigungen – vom Balkan oder aus Afrika –, die in der Schweiz präsent sind?

N.G.: Sagen wir, die ‹Ndrangheta ist in der Schweiz sehr präsent. Aber ich sage voraus, dass in der Eidgenossenschaft, wie in ganz Europa, die Mafia der Zukunft aus Albanien stammen wird. In Albanien gibt es eine starke Korruption, es gibt sehr mächtige kriminelle Vereinigungen, gegen die sich niemand auflehnt und die dank des Geldes auch Einfluss auf die Justiz nehmen und sich auf dem Kokainmarkt in Europa durchsetzen können. Gegenwärtig sind sie sehr präsent in Holland, aber auch in Südamerika, zusammen mit der ‹Ndrangheta.

Nicola Gratteri

Nato a Gerace nella Locride (Calabria) il 22 luglio del 1958, Nicola Gratteri è dal 2016 il procuratore generale della Repubblica di Catanzaro ed è oggi il massimo esperto di ‘ndrangheta. Entrato in magistratura alla fine degli anni ’80, come procuratore aggiunto presso il Tribunale di Reggio Calabria ha firmato diverse inchieste che hanno coinvolto molte persone residenti in Svizzera. Vive sotto scorta dal 1989. Vincitore di numerosi premi per il suo impegno civile e sociale, ha scritto diversi libri e saggi sulla criminalità organizzata insieme al giornalista e docente Antonio Nicaso.

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