Rätoromanisch retten, wo immer noch jemand es spricht
Vor 80 Jahren sagten 92 Prozent der damals männlichen Stimmbürger Ja zur Anerkennung des Rätoromanischen als vierte Landessprache. Heute ist die Sprache der Bergler in der Schweiz so beliebt wie eh und je – und stirbt dennoch aus. Jetzt muss der Bund helfen, fordert die Lobby der Minderheitensprache.
Rätoromanisch ist die älteste noch gesprochene Landessprache der Schweiz. Sie entstand aus der Vermischung von Volkslatein mit lokalen Sprachen im Kanton Graubünden. Laut UnescoExterner Link ist die Sprache der Bergler gefährdet. Nur noch 0,5 Prozent der Schweizer Bevölkerung sprechen Rätoromanisch, auch wenn der Sprache viel Sympathie entgegengebracht wird.
+ Lesen Sie hier, warum Rätoromanisch ausstirbt und ob die Sprache laut Linguisten eine Zukunft hat
Vor 80 Jahren kam die Bedrohung von aussen – konkret vom italienischen Faschismus unter Benito Mussolini. Dieser war der Ansicht, Rätoromanisch sei ein lombardischer Dialekt und der Schweizer Kanton Graubünden gehöre deshalb zusammen mit dem italienischsprachigen Kanton Tessin zu Italien.
Gerade wegen dieser Annektierungsgelüste fremder Mächte (Italien und Deutschland) sprachen sich 1938 so viele Schweizer an der Urne für die Anerkennung des Rätoromanischen als vierte Schweizer Landessprache aus: Man wollte ein Zeichen für eine unabhängige und eigenständige Schweiz setzen. Ganz nach dem Motto: Wir sind weder Italiener noch Deutsche, sondern Schweizer!
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Die Schweiz vergisst ihre vierte Landessprache
Die Jungen verlassen Alpentäler
Heute komme die Bedrohung von innen, sagte Johannes Flury, Präsident der romanischen Dachorganisation Lia RumantschaExterner Link, an einer Pressekonferenz anlässlich des Abstimmungs-Jubiläums. Flury nannte drei Hauptprobleme:
- Demographie: Die Jungen müssen für die Ausbildung in die Zentren. Es gibt wenige Arbeitsplätze in den rätoromanisch sprechenden Gebieten. Die Alpentäler entvölkern sich.
- Situation Medien: Laut Lia Rumantscha sind die Medien zentral: Eine Sprache könne nur überleben, wenn sie gesprochen und geschrieben werde. Die romanische Tageszeitung steht aber aus wirtschaftlichen Gründen vor dem Aus. Radio und Fernsehen müssen wegen der No-Billag-Abstimmung am 4. März um ihre Existenz fürchten.
- Globalisierung: Viele deutschsprachige Schweizer ziehen in die romanischsprachigen Gebiete. Dazu kommen ausländische Touristen und Gastarbeiter.
Wegen der Abwanderung hat sich Rätoromanisch in der ganzen Schweiz verbreitet. «Rätoromanisch wird immer mehr zu einer Schweizer Sprache», sagte Flury. Mindestens ein Drittel der romanischen Bevölkerung lebt ausserhalb des romanischsprachigen Gebietes.
Rätoromanisch gehört zur Schweiz
Flury erklärte, gemäss Sprachengesetzgebung überweise der Bund zur Förderung der Minderheitensprachen Geld an die Kantone Graubünden und Tessin. Das führe heute zu einem Problem: «Der Kanton Graubünden kann nicht in Zürich einen romanischen Kinderhort eröffnen.» Das Gesetz entspreche nicht mehr der Wirklichkeit.
Flury wünscht sich Lösungen wie jene in der Justiz: Jeder Rätoromane kann – unabhängig wo er wohnt – eine Beschwerde an das Bundesgericht auf Rätoromanisch abfassen. Die Lia Rumantscha fordert deshalb die Anerkennung der gesamten Schweiz als Territorium der vierten Landessprache und finanzielle Mittel des Bundes für die Diaspora.
Die Besonderheit der vier Landessprachen soll laut Lia Rumantscha nicht nur floskelhaft in Sonntagsreden Erwähnung finden: Denn Rätoromanisch gehöre zur Identität der Schweiz.
swissinfo.ch: Genügt die Schweiz den Anforderungen der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen des Europarats, oder muss man sie tadeln?
Johannes Flury: Ich habe lange an Schulen gearbeitet und würde sagen: knapp genügend. Die Schweiz ist Durchschnitt. Und zwar nicht, weil die Schweiz zu wenige Mittel investiert. Sondern eher im mangelnden Bewusstsein.
+ Lesen Sie hier, wie Rätoromanisch in der Praxis vernachlässigt wird.
swissinfo.ch: Ist die Schweiz einzigartig im Umgang mit Rätoromanisch im Vergleich zu anderen Ländern mit Minderheitensprachen?
J.F.: Das Besondere ist, dass wir kein Hinterland haben. Die Situation entspricht vielleicht den Sorben in Deutschland, die auch kein Hinterland haben. Darin liegt die Schwierigkeit. Die Lia Rumantscha muss sehr viel Arbeit selbst machen – beispielsweise die Wörterbücher. Bei den Tessinern ist es einfacher, sie holen das Material aus Italien. Die rätoromanische Rechtschreibprüfung beispielsweise – wer finanziert das? Die grossen Firmen sind nicht daran interessiert, denn der Markt ist zu klein. Da muss der Staat – wenn er eine viersprachige Schweiz will – eingreifen.
swissinfo.ch: Hat Rätoromanisch in der mehrsprachigen Schweiz grössere Überlebenschancen als eine Minderheitensprache in einem zentralistischen Land mit einer einzigen starken Mehrheitssprache?
J.F.: Ja und Nein. Bei den zentralistischen Ländern kann es von Vorteil sein, wenn das Zentrum der Minderheitensprache gut gesinnt ist. Das Zentrum bestimmt dann einfach. Aber umgekehrt ist bei uns der Wille grösser. Ich hatte mal Besuch aus China und als die hörten, dass wir eine Minderheit von 35’000 Personen unterstützen, machten sie grosse Augen. Sie sind nett geblieben, aber man hat ihnen angesehen, dass sie denken: «Wo sind wir?». 35’000 Personen – das ist nichts! Aber für die Schweiz ist es etwas mehr als nichts, denn die Viersprachigkeit gehört zur Identität der Schweiz.
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