Neues Leben auf alten Industriearealen
Die Umwandlung von Landwirtschaftsland in Bauland ist an ihre Grenzen gestossen. Gleichzeitig gibt es Hunderte von nicht genutzten Industriearealen. Vor 20 Jahren hat man mit der Umnutzung dieser Flächen begonnen, doch der Prozess kommt nur langsam voran.
Die Landschaft gerät in der Schweiz immer stärker unter Druck. Das ist eine Folge der demografischen Entwicklung. In diesem Sommer überschreitet die Schweiz die Grenze von 8 Millionen Einwohnern; das sind 3 Millionen mehr als vor 50 Jahren.
Zugleich haben sich die Lebensgewohnheiten verändert. Die durchschnittliche Wohnfläche pro Person hat in diesem Zeitraum von 30 auf 50 Quadratmeter zugenommen. Die Zahl der Pendler bei der berufstätigen Bevölkerung stieg von 23 auf 60 Prozent.
Diese Entwicklungen spiegeln einen steigenden Wohlstand der Bevölkerung. Doch sie haben auch einen Preis, insbesondere für die Umwelt. Jede Sekunde wird ein Quadratmeter Land für den Bau von Häusern, Unternehmungen, Strassen oder anderen Infrastrukturen geopfert. Das ist viel für ein Land wie die Schweiz, dem wegen der vielen Berge und Seen lediglich ein Drittel der Fläche zu Siedlungszwecken zur Verfügung steht.
Um der schleichenden Zubetonierung der Landschaft Einhalt zu gebieten und eine sparsame Nutzung des Raumes zu fördern, werden seit Jahren unterschiedliche Strategien diskutiert. Dazu gehört auch die Konversion von Brachflächen – stillgelegten Fabrikarealen, nicht mehr genutzten Bahnanlagen oder aufgegebenen Flugplätzen.
Erste Projekte verwirklicht
Gemäss einem Bericht der Schweizer Regierung existieren mindestens 380 dieser ungenutzten Flächen von mehr als einem Hektar Grösse. Die Gesamtfläche beläuft sich auf 2500 bis 3000 Quadratmeter – eine Fläche grösser als die Stadt Genf. Bei 69 Prozent dieser Areale handelt es sich um ehemalige Industrieanlagen, die in den 1970er-Jahren in Folge der Krise der Schwerindustrie aufgegeben wurden.
«Das war ein Schock, weil die Fabriken ihre Produktion einstellten und Arbeitsplätze verloren gingen. Niemand wusste, was man aus diesen Arealen machen sollte. Mit der Zeit merkte man, dass sie auch eine Chance für neue Investitionen bedeuten konnten. Denn viele ehemalige Industrieflächen befinden sich mitten in den Städten und sind daher gut an die öffentlichen Infrastruktursysteme angebunden“, sagt Martin Vinzens, stellvertretender Chef der Sektion ländliche Räume und Landschaft im Bundesamt für Raumentwicklung (ARE).
Viele Schweizer Städte haben in den letzten 20 Jahren Projekte zur Konversion solcher Areale umgesetzt. Aus Industriebrachen entstanden Überbauungen mit Wohnungen, Einkaufszentren, Büros, Hotels und Kinos. In einigen Gegenden sind richtige Quartiere einer modernen Industriearchitektur entstanden. Beispiele sind das Quartier Flon in Lausanne, das Escher-Wyss oder das Oerlikon-Areal in Zürich, Sulzer in Winterthur oder Eisenwerk in Frauenfeld.
Ein neues Image für die Stadt
«Um diese Umnutzungen möglich zu machen, die hoffentlich beispielhaft sind, war auch ein Wechsel im Bewusstsein der Städte nötig. Viele urbane Zentren haben grosse Anstrengungen unternommen, um die Lebensqualität in den Städten zu erhöhen“, sagt Martin Vinzens.
Zwischen den 1960er- und 1990er-Jahren hatten viele Einwohner die Städte verlassen, um aufs Land zu ziehen. Verkehr, Lärm und schlechte Luftqualität machten das Leben in den Städten schwer. Die Schaffung von Grünflächen, Fussgängerzonen und ein attraktives Freizeitangebot sorgten dann für eine Trendwende. Heute ziehen Städte wie Zürich, Bern und Genf viele neue Bewohner an.
Inzwischen gehören umgenutzte Industrieareale zu den attraktivsten Wohngegenden in den Städten. Alte Gebäude werden häufig nicht abgerissen, sondern renoviert und umgestaltet. «Die grossen Hallen, die Backsteinfassaden und Stahlträger schaffen ein aussergewöhnliches urbanes Ambiente. Es entsteht ein industrieller Romantizismus, der die harte Arbeit von einst in diesen Gebäuden fast vergessen macht“, sagt Vinzens.
Investoren zurückhaltend
Dieses neue romantische Wohnambiente hat allerdings noch nicht die grossen Investoren verführt. Nur ein ganz kleiner Teil der bestehenden Industriebrachen wurden bisher umgenutzt. Einhergehend mit der Schliessung weiterer Fabriken ist die Gesamtfläche von brachliegenden Industrieflächen somit praktisch unverändert geblieben.
«In Städten wie Zürich hat man schon einiges gemacht, doch in den Agglomerationen ist noch nicht viel geschehen. Denn dort gibt es noch viel normales Bauland, das weniger Investitionen benötigt, da keine Konversion nötig ist», sagt Lukas Bühlmann, Direktor der Schweizerischen Vereinigung für Landesplanung.
Die Konversion von industriellen Altflächen ist gemäss Bühlmann häufig nicht nur finanziell, sondern auch administrativ sehr aufwändig: «Es muss die Vereinbarkeit mit dem Quartier- und Verkehrsplan aufgezeigt werden, genauso wie die Kompatibilität mit dem Denkmalschutz, wenn es um historische Gebäude geht. Zudem müssen Sanierungsmassnahmen eingeleitet werden, wenn die ehemaligen Industrieflächen verseucht sind.»
Abstimmung steht bevor
Bis heute werden in der Schweiz für Neubauprojekte immer noch 90 Prozent Landwirtschaftsflächen geopfert. Um diesen Trend zu stoppen, hoffen viele auf das neue Raumplanungsgesetz, das kürzlich vom Parlament verabschiedet wurde, nun aber mit einem Referendum bekämpft wird.
Die neuen Vorschriften sehen vor, die zurzeit als Bauland ausgeschiedenen Flächen nicht zu vergrössern, sondern möglichst sogar zu verkleinern. Kantone, die neues Bauland als solches einzonen wollen, müssen zuerst beweisen, dass es keine andere Möglichkeiten gibt, inklusive der Nutzung von industriellen Brachflächen.
Noch weiter geht eine Volksinitiative (Landschaftsschutzinitiative), die ein 20-jähriges Moratorium für die Einzonung von neuem Bauland als Mittel gegen die Zersiedelung der Landschaft fordert.
Wenn genügend Unterschriften gegen die erfolgte Teilrevision des Raumplanungsgesetzes zustande kommen und die Landschaftsschutzinitiative nicht zurückgezogen wird, wird das Volk über die Zukunft der Raumplanung an der Urne entscheiden. «Wie auch immer: Die Schweiz kommt nicht darum herum, sparsamer mit der Siedlungsfläche umzugehen. Die Konversion von brachliegenden Industriearealen wird dabei sicherlich zu einem Dauerthema werden“, so Martin Vinzens.
Das 1979 verabschiedete Eidgenössische Raumplanungsgesetz hat es nicht geschafft, der zunehmenden Zubetonierung der Schweiz Einhalt zu gebieten.
Das Gesetz überlässt den Kantonen und Gemeinden im Prinzip noch die vollständige Autonomie zur Bewirtschaftung der Bauzonen. Ein Mangel an Koordination in Verbindung mit Wirtschaftsinteressen sorgten für ein stetes Verschwinden von Landwirtschaftsflächen.
2010 haben Pro Natura und weitere Umweltschutz.Organisationen die Volksinitiative «Raum für Mensch und Natur“ eingereicht – die so genannte Landschaftsschutzinitiative. Diese fordert, dass die Bauzonen während 20 Jahren nicht vergrössert werden dürfen. Wer neues Bauland einzont, muss andernorts eine zu grosse Bauzone verkleinern.
In der Zwischenzeit hat das Schweizer Parlament das teilrevidierte Raumplanungsgesetz – als Gegenvorschlag zur Landschaftsschutzinitiative – verabschiedet. Dieses verfolgt ebenfalls das Ziel, der Ausuferung der Siedlungsfläche in der Schweiz Grenzen zu setzen.
Die Umweltorganisationen haben erklärt, ihre Initiative zurückzuziehen, wenn das revidierte Gesetz in Kraft treten sollte.
Das ist bisher noch nicht klar. Am 26. Juni 2012 hat der Schweizerische Gewerbeverband angekündigt, dass er das Referendum gegen die Revision des Raumplanungsgesetzes ergreift.
Gemäss dem Dachverband der kleinen und mittleren Unternehmungen ist das neue Gesetz zu restriktiv und verhindert somit eine gesunde Wirtschaftsentwicklung.
In der Schweiz wurden rund 380 brachliegende Gewerbeflächen gezählt (Grösse von mehr als einem Hektar) mit einer Gesamtfläche von 2500 bis 3000 Hektaren.
Rund 70 Prozent davon sind Industriebrachen. Bei den anderen Flächen handelt es sich um ehemalige Areale der Bahn (14%), des Militärs (7%), um aufgegebene Flughäfen (2%) oder sonstige Flächen (8%).
Gemäss einer Schätzung des Bundesamts für Raumentwicklung (ARE) entspricht das Entwicklungspotential der Industriebrachen einem Geschossflächenpotenzial von 11,3 Millionen Quadratmetern, umgerechnet 85’000 Wohnungen oder 450’000 Dienstleistungs-Arbeitsplätze.
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
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