Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

«Niemand wird Srebrenica je vergessen können»

Zuhra Hodzic mit ihrer Tochter Hadzira. swissinfo.ch

Den Bosnien-Krieg hat sie als Kämpferin des bosnisch-muslimischen Widerstands hautnah miterlebt. Zuhra Hodzic stammt aus der Nähe von Srebrenica, wo 1995 ein Völkermord verübt wurde. Heute wohnt sie in der Schweiz. Die Kriegs-Bilder verfolgen sie noch immer.

Auf dem Computerbildschirm läuft ein Film aus dem Bosnienkrieg, der vor 20 Jahren begann und fast vier Jahre anhielt. Es sind Bilder des Widerstands muslimischer Truppen in der Gegend von Srebrenica. Zuhra Hodzic drückt auf die Pausentaste: «Hier, das bin ich, da in der hinteren Reihe.» Man sieht eine Frau in Uniform. «Dieser Mann ist tot, der auch, und dieser ebenfalls», sagt die 56-jährige Muslimin aus Bosnien.

Wir sind in einer 3-Zimmer-Wohnung in einem Vorort von Bern. Hadzira, die 16-jährige Tochter von Zuhra Hodzic, steht neben ihrer Mutter und übersetzt ins Deutsche. Es sei für sie nicht einfach, eine Mutter zu haben, die all das erlebt habe, sagt sie gegenüber swissinfo.ch. «Schon als kleines Kind musste ich lernen, damit umzugehen. Ich rede mit ihr nicht so oft über den Krieg, weil ich weiss, dass sie sich dann schlecht fühlt und Depressionen bekommt. Was ich wissen muss, weiss ich.»

Aktiv im Widerstand

Als der Krieg begann, wohnte Zuhra Hodzic in einem Dorf in der Nähe von Srebrenica. Als die Serben im April 1992 einmarschierten und die Bewohner via Lautsprecher aufforderten, die Häuser zu verlassen und sich auf dem Platz zu versammeln, sei sie mit ihrem Bruder in den Wald geflohen. «Von dort aus sahen wir, wie die erste Leute auf dem Spielplatz erschossen wurden.»

Zuhra Hodzic, die in der jugoslawischen Volksarmee gedient hatte und mit Waffen umgehen konnte, schloss sich der bosniakischen (muslimischen) Armee von Kommandant Naser Orić an. Der ehemalige Leibwächter von Serbiens Präsident Slobodan Milošević war damals erst 25 Jahre alt und Polizeichef von Potocari, einem Nachbarort von Srebrenica.

Orics Verbände leisteten der serbischen Offensive Widerstand und gewannen die Kontrolle über Srebrenica zurück. Sie sollen in dieser Zeit auch serbische Dörfer überfallen und Lebensmittel und Waffen erbeutet haben. Die meisten Serben verliessen die Region. Die Zahl der serbischen Opfer ist bis heute umstritten.

Zu Beginn war Zuhra Hodzic die einzige Frau unter den bosniakischen Kämpfern. «Schon als Kind habe ich lieber mit Knaben gespielt und mich wie ein Junge gekleidet», sagt sie.

In dieser Zeit machte Hodzic auch von Waffen Gebrauch: «Es war Krieg. Wenn Unschuldige getötet werden, musst Du kämpfen. Ich habe viele Menschen gesehen, die erschossen wurden, obwohl sie ihre Hände erhoben haben. Ich habe auch geschossen – aus 15 Metern Entfernung – aber nicht gezielt.»

Der Völkermord von Srebrenica

Der Kriegswinter 1992/93 war hart. Tausende Vertriebene aus der Umgebung hatten Zuflucht in Stadt Srebrenica gefunden. «Mein Haus war sehr gross, mit zwei Stockwerken. 70 Flüchtlinge lebten dort. Sie schliefen überall auf dem Boden», sagt Hodzic. Die humanitäre Lage war katastrophal, die Leute hungerten. Nur selten sei internationale Nahrungsmittel bei ihnen eingetroffen, sagt die Bosnierin.

Im Mai 1993 erklärte die UNO die eingeschlossene Stadt Srebrenica zur Schutzzone. Kanadische und niederländische Blauhelmsoldaten wurden entsandt, um die Stadt zu schützen. Doch es kam anders.

«In der Nacht vom 11. Juli 1995 erklärten uns die UNO-Truppen, dass die Serben anrückten und wir alle nach Tuzla gehen müssten. Das Problem war, dass wir mit den holländischen und kanadischen Soldaten nicht kommunizieren konnten. Wir begriffen aber, dass es für sie schrecklich war, uns nicht beschützen zu können. Viele weinten, als sie uns wegschickten», erinnert sich Zuhra Hodzic.

Danach fiel Srebrenica an die Serben. Zehntausende Frauen und Kinder wurden deportiert, Tausende Männer und Knaben massakriert. Zuhra, ihr Mann und viele andere flohen zu Fuss, unter permanentem Beschuss.

«Wir trafen uns auf einem Hügel, wir waren 15-20’000 Leute, die nicht wussten, wohin wir gehen sollten. Alle suchten nach ihren Liebsten, überall wurde geschossen, es war hoffnungslos. Wir gingen dann in verschiedene Richtungen.»

Die Flucht

Nach fünf Tagen Marsch ohne Nahrung traf Zuhra ihre Familie wieder in Tuzla, wo sie in einer Sporthalle unterkamen. Später fanden sie in Rosulie, einem leeren serbischen Dorf, im Haus eines Freundes Unterschlupf. Dort wurde am 26. April 1996 Hadzira geboren. In den nächsten Jahren arbeitete die Bosnierin in einem Kiosk und als Kindergärtnerin.

Als 1999 die ersten Serben zurückkehrten, um zu schauen, was aus ihren Häusern geworden war, wurde es für Zuhra Hodzic prekär, sie hatte Angst, die Serben könnten ihr etwas antun. Denn man kannte sie, auch aus den Medien. 1995 war sogar in der New York Post ein Artikel über sie erschienen mit dem Titel: «I’m a fighter, a woman and a wife».

Zusammen mit ihrer kleinen Tochter flüchtete sie via Kroatien in die Schweiz. 2001 trafen die zwei im Asyl-Zentrum Vallorbe in der Westschweiz ein. «Alles war verriegelt und umzäunt. Ich fühlte mich wie im Gefängnis.» Bald schon wurden sie in ein familienfreundliches Zentrum nach Lausanne verlegt, von dort ging es weiter nach Ostermundigen, dann nach Oberdiessbach, wo sie zweieinhalb Jahre blieben.

Der Krieg noch immer im Kopf

Heute wohnen Zuhra und Hadzira Hodzic in der Nähe von Bern. Sie leben von Sozialhilfe. Ob sie in der Schweiz bleiben können, wissen sie nicht. Da Hodzic an ständigen Kopfschmerzen und auch an Depressionen leidet, kann sie keiner regulären Arbeit nachgehen. Im Auftrag des Integrationszentrums Bern reinigt sie für 200 Franken pro Monat Graffitis und Schmierereien an Tram- und Busstationen.

Seit Jahren wird sie im Ambulatorium für Folter- und Kriegsopfer des Schweizerischen Roten Kreuzes behandelt. Denn auch wenn seit dem Krieg in ihrer Heimat viele Jahre vergangen sind, so sind die Erinnerungen an die Gräueltaten noch immer präsent, Tag und Nacht. «Was ich in Srebrenica auf der Flucht erlebt habe, sollte niemand erleben müssen.»

2008 hat das UNO-Kriegsverbrecher-Tribunal in Den Haag den ehemaligen Kommandanten der muslimischen Truppen in Srebrenica freigesprochen.

2006 war Orić in erster Instanz zu zwei Jahren Haft verurteilt worden. Er war der Ermordung und Misshandlung von Serben in muslimischen Gefängnissen durch ihm unterstellte Einheiten in den Jahren 1992 und 1993 für schuldig befunden worden.

Der Zerfall Jugoslawiens beginnt 1991 mit der Unabhängigkeit Kroatiens und Sloweniens.

Im März 1992 stimmen auch die Bosnier in einem Referendum, das von der serbischen Minderheit boykottiert wird, mit überwältigender Mehrheit für die Loslösung von Jugoslawien.

Die Spannungen zwischen den Volksgruppen nehmen zu: Während in Sarajewo Zehntausende für Frieden demonstrieren, schiessen serbische Heckenschützen in die Menschenmengen, es gibt die ersten Kriegstoten.

Der Krieg dauert über dreieinhalb Jahre und fordert rund 100’000 Menschenleben, mehr als 2,2 Millionen Menschen müssen fliehen.

Im Juli 1995 kommt es in der UNO-Schutzzone Srebrenica zu einem Massaker. Bosnisch-serbische Milizen marschieren in die Stadt ein und töten – trotz der stationierten UNO-Blauhelmsoldaten – 8000 muslimische Männer und Knaben.

Nach diesem Völkermord greift die Nato militärisch ein.

Ende 1995 wird das Friedensabkommen von Dayton unterzeichnet. Die Konflikt-Parteien einigen sich auf die Unterteilung Bosnien-Herzegowinas in die halbautonome serbische Republika Srpska und die muslimisch-kroatische Föderation.

Während des Kriegs fliehen 1,2 Millionen ins Ausland, über 20’000 in die Schweiz.

Bosnien ist auch heute noch tief gespalten. Der politische Stillstand und die von ethnischen Konflikten geprägte Gesellschaft haben Bosnien zu einem der ärmsten Länder Europas gemacht.

Die Arbeitslosigkeit liegt bei 40%. Jeder vierte der 3,8 Millionen Einwohner lebt unter der Armutsgrenze.

Radovan Karadzic und Ratko Mladic, der politische und der militärische Führer der bosnischen Serben, stehen vor dem Haager Kriegsverbrecher-Tribunal. Der Prozess gegen Mladic beginnt am 14. Mai.

Beliebte Artikel

Meistdiskutiert

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft