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Nun brennen auch Schweizer Studenten aus

Lernen bis zur völligen Erschöpfung. Immer mehr Studenten haben Probleme mit ihrem Zeitmanagement. Keystone

Die Diagnose Burnout war bisher nur unter Erwerbstätigen bekannt. Doch nun hat das Phänomen laut Experten auch die Studentenschaft erreicht.

Das schöne Studentenleben hat schon länger abgedankt. Nun aber verzeichnen die schweizerischen Beratungsstellen für Studierende immer mehr Besuche von Studierenden, die an ihre Grenzen stossen.

An der Universität St. Gallen haben sowohl die psychologische Beratungsstelle wie auch die Seelsorge eine Zunahme von Beratungsgesprächen festgestellt, wie Pfarrer Markus Anker gegenüber swissinfo.ch sagt. Die Zunahme sei überproportional und nicht allein auf die steigende Anzahl der Studierenden zurückzuführen.

«Sie weisen oft typische Stresssymptome auf, sind überlastet», so der Seelsorger. Stress über längere Zeit kann zu einem Burnout führen. Aber lange nicht jede Person, die unter Stress leidet, erlebt ein Ausbrennen.

Eine genaue Definition eines Burnouts gibt es nicht. Offiziell gilt Burnout nicht als medizinische Diagnose. Deshalb gibt es auch praktisch keine Zahlen zum Phänomen.

Laut der Schweizer Stressstudie 2010 des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) ist ein Burnout ein «Zustand der emotionalen, mentalen und körperlichen Erschöpfung und gefühlsmässigen Distanzierung von der Arbeit (z.B. Zynismus den Kunden, Klienten oder Patienten gegenüber), der durch die Arbeitstätigkeit entstehen kann».

Personen, die unter Burnout leiden würden, «haben das Gefühl, dass Ihre ‹Batterien› leer sind, fühlen sich verbraucht und ausgelaugt», zitiert die Studie eine wissenschaftliche Arbeit aus Israel zum Thema.

Hohe Ansprüche

Burnout bei Studierenden? «Ich habe schon sehr häufig davon gehört», sagt Brigitta Schneider-Knell, Fachpsychologin FSP in Aarau sowie Dozentin an der Universität Freiburg und der Fachhochschule für Sport in Magglingen.

Betroffene leisteten einen hohen Einsatz, seien sehr pflichtbewusst und stellten an sich und die Umgebung hohe Ansprüche, so die Psychologin. «Später reduziert sich dann das Engagement, es kommen emotionale Reaktionen dazu, man ist absolut nicht mehr leistungsfähig, verliert die Freude, kann nicht mehr schlafen und so weiter.»

Der Bilderbuch-Manager

Als Beispiel erzählt sie die Geschichte eines Managers wie aus dem Bilderbuch, der bei ihr in Behandlung war: «Man konnte ihn überall und immer einsetzen, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Er verlangte das auch von sich selber. Die Familie merkte eigentlich schon sehr lange, dass etwas nicht stimmt. Aber er wollte das – und das ist typisch – nicht wahrhaben.»

Er habe sich eingeredet, dass alles in Ordnung, er immer noch top motiviert sei. «Und plötzlich ging gar nichts mehr: Er musste mitten in einer Sitzung raus, musste sich erbrechen, war unfähig, weiterzuarbeiten. Und er war völlig verstört, weshalb ihm das passiert.»

Unter Druck

«Burnout ist generell arbeitsbezogen», heisst es auf der Website des Schweizer Expertennetzwerks für Burnout. Doch mit betroffenen Studierenden hat das Phänomen aus der Arbeitswelt nun auch die Bildungseinrichtungen erreicht.

«Bei Studierenden wird viel diskutiert, ob der neue Modus mit Bachelor und Master einen Einfluss darauf hat», sagt Schneider. «Die Bologna-Reform wurde von den meisten Universitäten falsch verstanden, weil jetzt jeder Kurs als Modul abgerechnet wird und eine Prüfung zur Folge hat. Ein Student, der mit seinem Studium vorwärtsmachen will, hat 10 bis 15 Prüfungen in einem Semester. Das ist zu viel.»

Auch Markus Anker glaubt, dass das neue System unter anderen ein Faktor ist, der Studierenden zusetzen kann: «Die Studienzeiten sind viel kürzer und intensiver geworden.» Ein weiterer Faktor sei, dass viele ausländische Studierende im neuen Umfeld überfordert seien.

Zudem hätten junge Menschen heute daheim oft keine grossen Verpflichtungen mehr, dafür werde aber von ihnen verlangt, in der Schule ihre Leistungen unter Beweis zu stellen, so der Pfarrer.

Mit dieser Eigenverantwortung, dem Leistungsdruck standzuhalten, könnten viele Studierende nicht so gut umgehen. «Sie sind sehr gut vorbereitet, sehr ambitioniert und zielorientiert, haben zugleich aber grössere Schwierigkeiten, mit Problemen fertigzuwerden.»

Weil Prüfungen nur noch im Krankheitsfall verschoben werden können, sei vermutlich aber auch ein Teil der Krankschreibungen auf diese neue Regelung zurückzuführen, vermutet Anker.

Fehlendes Zeitmanagement

Ein Fach wie Zeitmanagement könnte Studierenden helfen, sich besser zu organisieren, glaubt Brigitta Schneider. Doch so etwas werde gegenwärtig an den Universitäten nicht angeboten.

Psychologe Sandro Vicini, Leiter der Beratungsstelle der Berner Hochschulen, pflichtet ihr bei: «Universitäten bieten kaum Unterricht über Zeitmanagement an.» An der Beratungsstelle könnten Interessierte gegenwärtig einen Workshop zum Thema Zeitmanagement besuchen.

Vorbeugen statt heilen

Der Besuch eines solchen Kurses könnte ein erster Schritt sein, um selber erkennen zu können, wann der Druck für Studierende zu hoch wird.

Denn: «Eine Person, die in ein Burnout läuft, will dies sehr, sehr lange gar nicht wahrhaben, obwohl die Umgebung schon einige Merkmale sieht», sagt Schneider.

Gemäss Zahlen des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) kosten stressbedingte Ausfälle die Schweizer Wirtschaft 4,2 Mrd. Franken pro Jahr.

Laut Experten haben die meisten Hausarztbesuche (über 90%) stressbedingte Faktoren. Immer häufiger müssten auch junge Menschen eine Auszeit nehmen.

Ein Burnout entsteht wegen zu viel Stress. Stress führt aber nicht zwingend zu einem Burnout.

Eine genaue Definition des Begriffs «Burnout» gibt es nicht. Wissenschaftlich belegt ist, dass ein wesentliches Merkmal das «Gefühl der Erschöpfung» ist.

Die Autoren der Schweizer Stressstudie 2010 des Seco fragten 1000 Personen, ob sie bei der Arbeit das Gefühl hätten, emotional verbraucht zu sein. 21% antworteten mit «trifft eher zu», 4% mit «trifft völlig zu».

Die Studie ging davon aus, dass jene 4% «ein klinisches Niveau von Burnout aufweisen und psychologischer und ärztlicher Behandlung bedürfen».

Die Autoren gaben aber auch zu bedenken, dass die Annahmen ihrer Studie «in einer weiteren Studie erhärtet werden» müssten, die andere Aspekte des Burnouts ebenfalls erfassen sollte, um ein «eindeutigeres Ergebnisbild zu erhalten».

Für die Fachpsychologin Brigitta Schneider-Knell gibt es sechs Schutzfaktoren, auf die geachtet werden sollten, um ein Burnout zu verhindern:

– Körperliche Gesundheit (Schlaf, Erholung, gesundes Essen)

– Emotionale Stabilität (mit Leuten reden, auf den Körper hören)

– Eine realistische Selbsteinschätzung (geht mein Leben in die richtige Richtung?)

– Fachliche Kompetenz (dauernde Weiterbildung)

– Soziale Kompetenz

– Ein gutes soziales Netz

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