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Die Schweiz scheint für Flüchtlinge weniger attraktiv

Laut dem Staatssekretär für Migration dürfte die Zahl der Asylanträge in der Schweiz in diesem Jahr viel niedriger sein als 2015. Claudio Bader / 13 Photo

Über Jahre gehörte die Schweiz zu den europäischen Ländern, in denen im Verhältnis zur Bevölkerung am meisten Asylgesuche gestellt wurden. Inzwischen ist immer häufiger von einem "Transitland" die Rede, das Migranten nur durchqueren wollen, um Nordeuropa zu erreichen. Aber stimmt das? Und welche Gründe könnten eine Rolle spielen, falls es wahr sein sollte?

Beginnen wir bei den Zahlen. Im ersten Halbjahr 2016 wurden in der Schweiz 14‘277 Asylgesuche gestellt. Das sind 20 Prozent mehr als in der gleichen Vorjahresperiode.

Doch in den vergangenen drei Monaten hat sich etwas verändert. Im Juli sank die Zahl der Asylgesuche gegenüber dem gleichen Vorjahresmonat um 36% (auf 2477). Im Juni war der Rückgang sogar noch deutlicher: -40%. Das Staatssekretariat für Migration (SEM) erwartet für das ganze Jahr 2016 mittlerweile 30‘000 Asylanträge. Das wären 10‘000 weniger als 2015.

Im gleichen Zeitraum hat jedoch die Zahl der Personen zugenommen, die von den Grenzwächtern an den Grenzen zurückgewiesen werden, insbesondere im Tessin, an der Grenze zu Italien. Im Juli gab es 4000 Wegweisungen und in den ersten beiden August-Wochen 2400 (diese Zahl erfasst die effektive Zahl der Wegweisungen, nicht der Personen. Denn eine Person kann mehrfach versuchen, in die Schweiz einzureisen und weggewiesen werden. Jedes Mal wird dies in der Statistik als Fall berücksichtigt). 

«Migranten, welche die Schweiz lediglich durchqueren wollen und die Einreisevoraussetzungen gemäss Artikel 5 des AusländergesetzesExterner Link nicht erfüllen, werden vom Schweizer Grenzwachtkorps gemäss dem seit dem Jahr 2000 bestehenden RückübernahmeabkommenExterner Link konsequent nach Italien rücküberstellt», sagt David Marquis, Sprecher der Eidgenössischen Zollverwaltung und des Grenzwachtkorps.

Die Migranten könnten in der Schweiz einen Asylantrag stellen. Doch viele täten dies nicht. «Tatsächlich ist deren Zahl in den letzten Wochen signifikant rückläufig», so Marquis. Daher die vielen Rückweisungen. Die Darstellung des Sachverhalts wird von einer Reihe von Nichtregierungsorganisationen (NGO) allerdings bezweifelt. Demnach würden auch Migranten an der Grenze zurückgeschickt, obwohl sie klar ihren Willen geäussert hätten, in der Schweiz um Asyl zu bitten.

Vom Asylland zum Transitland?

Die neue Situation hat zur These geführt, dass sich die Schweiz von einem Asylland in ein Transitland für Migranten verwandelt. Bundesrätin und Justizministerin Simonetta Sommaruga (SP) hat ausdrücklich gesagt, dass sie dieses Szenario vermeiden will: «Die Schweiz kann kein Transitkorridor für Migranten werden.»

In Como, gleich auf der italienischen Seite der Schweizer Südgrenze, sind indes Hunderte von Migranten gestrandet, die an der Grenze zurückgewiesen wurden. Roberto Bernasconi, Direktor von Caritas Como, bestätigt: «Es handelt sich um eine Realität: Nur ein kleiner Teil dieser Migranten will in der Schweiz ein Asylgesuch stellen. Die Mehrheit will in den Norden, nach Deutschland, Belgien, Dänemark oder andere Länder Nordeuropas.»

Tatsächlich hat insbesondere Deutschland den Grenzschutz an der Grenze zur Schweiz verstärkt. Es wird befürchtet, dass mehr Migranten unkontrolliert über die Schweiz einreisen. In den letzten Wochen haben die deutschen Behörden 40 zusätzliche Beamte an die Grenze geschickt, wie ein Sprecher der deutschen Bundespolizei der Zeitung «Der Bund» bestätigte. Gemäss den deutschen Behörden sind im Jahr 2016 bisher 3385 Personen irregulär von der Schweiz nach Deutschland eingereist. Dies entspricht einem Anstieg um 40% gegenüber dem Vorjahr. 

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Folgen des Dublin-Abkommens  

Die Schweizer Grenzwacht nimmt keine Spekulationen vor zu den Gründen, weshalb diese Personen die Schweiz transitieren wollen und kein Asyl verlangen.

Roberto Bernasconi von der Caritas Como kann gewisse Gründe nennen: «Viele sagen, dass sie in diesen Ländern schon Familienangehörige oder gewisse Anlaufstellen haben. Daher sind sie der Auffassung, bessere Chancen auf einen Job zu haben.»

Ähnlich sieht es Cristina Del Biaggio, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Genf und Mitglied des Vereins Vivre Ensemble, der sich für die Rechte von Asylsuchenden einsetzt. Sie hielt sich Mitte August für einige Tage in Como auf. Und sie konnte tatsächlich feststellen, dass viele Migranten durch die Schweiz in Richtung Norden reisen wollen.

Neben der Familienzusammenführung gibt es weitere Gründe. «Viele Personen, die in Como biwakieren, kommen von den temporären Aufnahmezentren in Süditalien», sagt Roberto Bernasconi. Das heisst, dass sie in Italien registriert wurden. Und Italien muss gemäss dem Abkommen von Dublin als erstes Ankunftsland den Asylantrag bearbeiten. Wenn sie in einem anderen europäischen Land, das dem Dublin-Abkommen beigetreten ist, einen Asylantrag stellen, müssen sie theoretisch nach Italien zurückgebracht werden. «Im Moment ist die Schweiz der Staat, der das Dublin-Abkommen am rigorosesten anwendet. Viele Migranten wissen dies, daher versuchen sie, ein anderes Land zu erreichen, wo sie sich mehr Chancen erhoffen, bleiben zu können», meint Cristina Del Biaggio.

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Verschärfte Asylpraxis gegenüber Eritreern

Schliesslich gibt es auch noch «konjunkturelle und politische Faktoren», die erklären, warum die Attraktivität der Schweiz für Migranten nachgelassen hat. Dabei geht es um die Herkunftsländer der Flüchtlinge, insbesondere Eritrea. Auch wenn die Eritreer nach wie vor die grösste Gruppe von Asylsuchenden bilden, ist ihre Zahl doch deutlich zurückgegangen. 

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«Für diese Entwicklung gibt es verschiedene Gründe. Der wichtigste Grund ist wohl, dass die Zahl der Eritreer, die über das Mittelmeer Süditalien erreicht haben, sich in den ersten sieben Monaten dieses Jahres  gegenüber 2015 halbiert hat», heisst es beim Staatssekretariat für Migration. «Dazu kommt, dass dieses Jahr rund ein Drittel der Flüchtlinge aus Eritrea in Italien ein Asylgesuch gestellt hat – ein deutlicher Anstieg gegenüber 2015. Schliesslich vermeldet auch Deutschland einen Anstieg von asylsuchenden Eritreern.»

Dass mehr Migranten in Italien ein Asylgesuch stellen, geht insbesondere auf die Einrichtung der so genannten Hotspots zurück. Es handelt sich um Zentren zur Aufnahme und erkennungsdienstlichen Erfassung von Flüchtlingen, die über das Mittelmeer nach Italien oder auch Griechenland kommen. Die EU hatte auf die Einrichtung dieser Hotspots gedrängt.

Der Trendwechsel im Flüchtlingswesen könnte sich schliesslich auch mit einer verschärften Asylpraxis der Schweiz gegenüber Eritreern erklären. Im Jahr 2012 entschied das Schweizer Parlament, die Desertion nicht mehr als Asylgrund anzuerkennen. Betroffen davon sind in erster Linie Eritreer, die zum Militärdienst auf Lebenszeit gezwungen werden.

Gemäss einem Entscheid des Staatssekretariats für Migration vom Juni dieses Jahres sollen illegal aus dem Land ausgereiste Eritreer nicht mehr als Flüchtlinge anerkannt werden, wenn sie vorher noch nie für den Nationaldienst aufgeboten worden sind, wenn sie vom Nationaldienst befreit oder bereits aus dem Nationaldienst entlassen wurden. Diese Praxisänderung durch das SEM wurde von der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH) scharf kritisiert. Denn es gebe keinerlei Beweise, dass das Regime in Eritrea die Straf- und Repressionsmassnahmen gegen diese Personengruppe aufgehoben hätte. 

Ist es richtig, dass die Schweiz das Gesetz eisern anwendet? Oder sollte sie den humanitären Aspekten bei der Flüchtlingsproblematik mehr Rechnung tragen, wie Aussenminister Didier Burkhalter meint? Diskutieren Sie mit uns!

«Es braucht mehr Transparenz»

Die Direktorin der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH), Miriam Behrens, hat am 17. und 18. August 2016 in Chiasso und Como vor Ort einen Augenschein zur Lage der Flüchtlinge genommen. 

Nach diesem Besuch beklagte sie, dass Schutzsuchende nicht ausreichend und teilweise auch nicht korrekt informiert seien. Mehr Transparenz sei nötig.

«Das Grenzwachtkorps muss unbedingt alle Fälle, bei denen ein Asylgesuch gestellt wird, dem Staatssekretariat für Migration (SEM) übermitteln – selbst dann, wenn Zweifel am Gesuch bestehen», heisst es in einer Medienmitteilung. In zahlreichen Fällen wüssten die Migranten nicht, wann sie ein Asylgesuch stellten könnten.

Die SFH kam zudem zum Schluss, dass das Grenzwachtkorps grundsätzlich mehr Unterstützung brauche, sowohl mit Übersetzerinnen und Übersetzern, als auch mit Fachpersonen für die Betreuung von Minderjährigen.

Bei den Minderjährigen, insbesondere Kindern, geht es um ein besonders heikles Thema. Die SFH hat während ihrem Besuch an der Grenze feststellen können, dass diverse begleitete und unbegleitete Kinder, die sich in Como aufhalten, einen Versuch unternommen hatten, in die Schweiz zu gelangen.

Das Eidgenössische Finanzdepartement (EFD), dem das Grenzwachtkorps unterstellt ist, hat auf seiner Website Stellung genommen zur gängigen Praxis: «Wenn eine Person zu erkennen gibt, dass sie in der Schweiz um Schutz ersucht, hat sie Zugang zum Schweizer Asylsystem. Hingegen werden Personen ohne gültige Reisedokumente, die kein Asylgesuch stellen oder die Schweiz nur transitieren wollen, gemäss Ausländergesetz durch das Grenzwachkorps aus der Schweiz weggewiesen.» 

In Bezug auf minderjährige Migranten anerkennt das EFD, dass diese einen besonderen Schutz benötigen. Das GWK sei sich dieser Verantwortung bewusst und nehme sie auch wahr: «Deshalb werden minderjährige Migranten bis zur Übergabe an eine andere Behörde jederzeit begleitet und betreut, und sie stehen unter Aufsicht des Grenzwachtkorps.»

(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

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