Das Coronavirus trifft Geschäfte, Schulen, die Industrie, uns alle. Wie steht es mit jenen am Rande der Gesellschaft? Das Virus stellte auch das Leben der Randständigen auf den Kopf.
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Klaus Petrus (Fotos und Text), Ester Unterfinger (Bildredaktion)
400 sind es angeblich allein in der Stadt Bern, wie viele in der gesamten Schweiz, das weiss niemand so genau. Menschen ohne feste Bleibe, Abhängige, Sexarbeiterinnen, sie alle sind betroffen – weniger vom Virus, sagen sie, als von den Massnahmen, die der Bund bis auf Weiteres verhängt hat. Manche können nicht daheimbleiben, auch wenn sie es möchten, denn sie haben kein Zuhause.
C., 46, zwei Kinder, ohne Arbeit, obdachlos
L., 35, ein Kind, ohne Arbeit, obdachlos
P., 49, drei Kinder, Sexarbeiterin
N., 36, ohne Arbeit, obdachlos
D., 34, ohne Arbeit, obdachlos
L., 53, ein Kind, ohne Arbeit, obdachlos
D., 38, seit 20 Jahren süchtig, ohne Arbeit, obdachlos
T., 38, ohne Arbeit, obdachlos
Um die Abstandsregeln des Bundes einzuhalten, mussten die Notschlafstellen in verschiedenen Schweizer Städten ihre Plätze minimieren. In 4-Bett-Zimmern darf jetzt nur noch eine Person schlafen, in 6-Bett-Zimmern sind es deren zwei. Entsprechend müssen Betroffene abgewiesen werden, eine für diese Institutionen unhaltbare Situation. Hilfe kommt von unterschiedlicher Seite. So stellten in verschieden Städten Stiftungen und kirchliche Verbände Geld zur Verfügung, um Hotelzimmer zu mieten, Container aufzustellen und Gebäude umzunutzen, damit wieder mehr Betten vorhanden sind.
Die Solidarität ist gross
Auch die Essensversorgung wurde aufgrund der Covid-19-Verordnung des Bundes eingeschränkt. So musste die Tafel «Tischlein deck dich», von der in der Schweiz jede Woche 20 000 Personen profitieren, teilweise eingestellt werden, weil der Sicherheitsabstand bei der Essensausgabe nicht eingehalten werden kann und viele Freiwillige aufgrund ihres Alters zur Risikogruppe gehören.
Tatsächlich existieren bis heute keine Statistiken und Zahlen zu Obdachlosigkeit in der Schweiz. Die einzigen DatenExterner Link, die vorliegen beziehen sich auf die Stadt Basel. Die Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Hochschule für Soziale Arbeit, der Nordwestschweiz, Esther Mühlethaler, die an der Basler Studie beteiligt war, bestätigt dies. Ihr Team arbeitet zu Zeit an der ersten nationalen quantitativen Erhebung, die 2021 durchführt und publiziert werden soll.
Organisationen aus der Zivilgesellschaft versuchen diese Lücken zu füllen – indem Essen in öffentlich zugänglichen Kühlschränken gelagert oder an öffentlichen Plätzen verteilt wird. Diese Hilfe, sie soll unkompliziert und direkt erfolgen, ist nur mit finanzieller Unterstützung möglich. Eine wohl beispiellose Aktion lancierte Ende März die Katholische Kirche Region Bern: Innert kurzer Zeit beschloss sie eine Soforthilfe in Höhe von einer Million Franken. Ein Grossteil des Geldes kommt sozialen Institutionen zugute, die sich für Armutsbetroffene und andere Personen am Rande der Gesellschaft einsetzen.
Mit dem schwindenden Angebot bricht den Betroffenen die Tagesstruktur weg, der soziale Kontakt wird rar und beschränkt sich aufs Mischen und Mauscheln auf der Gasse. Treffpunkte, Anlaufstellen und Gassenarbeit wurden massiv eingeschränkt. Viele der Obdachlosen gehören zur Risikogruppe, nicht so sehr aufgrund des Alters, sondern wegen ihrer angeschlagenen Gesundheit. Rahel Gall Azmat,Geschäftsleiterin der Stiftung für Suchthilfe Contact rechnet zudem damit, dass weniger Drogen im Umlauf sein werden: «Sind Drogen knapp, werden sie eher gestreckt, und das kann fatale gesundheitliche Folgen haben – im schlimmsten Fall den Tod durch Überdosis.»
Klaus PetrusExterner Link arbeitet freiberuflich als Fotojournalist und Reporter. Er interessiert sich für soziale Konflikte, Krieg, Migration und Ausgrenzung und berichtet für nationale wie internationale Zeitungen und Magazine aus der Schweiz, dem Nahen Osten, Balkan und der Subsahara. Ein Interview mit ihm über die Arbeit in Krisengebieten hat der Filmemacher Konstantin Flemig in seinem Buch Alltag in der HölleExterner Link geführt.
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