Schweizer Forscher zählen zum ersten Mal Obdachlose
Auch in der reichen Schweiz gibt es Obdachlose. Aber wie viele? Eine erste landesweite Erhebung will die Antwort finden.
Einige Länder, Städte und lokale Behörden tun sehr viel, um Obdachlosen zu helfen. In Kanada etwa erhielt eine Gruppe von Obdachlosen kürzlich im Rahmen eines sozialen Experiments eine einmalige Bargeldauszahlung von 7500 Dollar (5200 Franken), um wieder auf die Beine zu kommen.
Das sogenannte New Leaf Projekt wählte 50 Personen aus, die kürzlich in der Gegend von Vancouver obdachlos geworden waren. Sie erhielten das Äquivalent des jährlichen Einkommensunterstützungssatzes in der Provinz British Columbia.
Ein Jahr später zeigten die Empfänger im Vergleich zu einer Kontrollgruppe, die kein Bargeld erhalten hatte, bessere Werte bei der Wohnstabilität, der Ernährungssicherheit und der Inanspruchnahme von Sozialleistungen, wie die AuswertungExterner Link ergab.
Das Recht auf angemessenen Wohnraum ist in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 festgeschrieben. Dennoch sind weltweit schätzungsweise 150 Million Menschen obdachlosExterner Link. Und die Schweiz ist trotz ihres Reichtums keine Ausnahme: Jeden Winter, wenn die Temperaturen sinken, können die Notunterkünfte die Nachfrage nach warmen Betten nicht mehr befriedigen. Und jeden Winter findet eine Debatte statt über die Anzahl der Menschen, die hierzulande auf der Strasse leben.
Keine leichte Aufgabe
Es ist keine leichte Aufgabe, die Obdachlosigkeit landesweit zu erfassen. Viele Industrieländer haben aber zumindest eine SchätzungExterner Link veröffentlicht. Im Jahr 2017 meldeten beispielsweise die USA 553’700 Obdachlose (0,17 % der Gesamtbevölkerung), während es in Dänemark 6635 (0,11 %) und in Südkorea 11’000 (0,02 %) waren. Andere Länder weisen nur eine Armutsquote aus – darunter auch die Schweiz.
Forscher der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) führen derzeit die erste schweizweite Studie durch. Sie wollen so die Obdachlosigkeit im Land schätzen. Das Team um Professor Jörg Dittmann hat das Projekt Anfang 2020 gestartet und rechnet damit, im kommenden Frühjahr erste Ergebnisse zusammenzutragen. Der Kern der Studie besteht aus Interviews, die in der ersten Dezemberwoche stattfanden.
Im Gespräch mit Betroffenen
«Wir haben versucht, Menschen zu erreichen, die sehr schwer zu erreichen sind: Man kann den Leuten den Fragebogen nicht einfach schicken, wenn sie keinen festen Wohnsitz haben. Das wäre eine Standard-Umfragetechnik», erklärt Christopher Young, der die Interviews koordinierte.
«Ihnen einfach einen 10-seitigen Fragebogen und einen Stift zu geben, hätte nicht funktioniert. Normalerweise haben diese Menschen andere Sorgen», sagt Young und betont, dass auch die Sprachkenntnisse und der Bildungshintergrund dieser Bevölkerungsgruppe eine Herausforderung sein könne. «Natürlich gab es Leute, die die Teilnahme verweigerten. Aber im Allgemeinen gab es eine Menge Wohlwollen gegenüber den Interviewern.»
Die Forscher wählten 50 Einrichtungen in den Städten Genf, Lausanne, Basel, Bern, St. Gallen und Lugano aus – Suppenküchen, Notunterkünfte und medizinische Einrichtungen. 85 Interviewerinnen und Interviewer haben sich dort mit den betroffenen Menschen zusammensetzten und mit ihnen einen kurzen und einen längeren Fragebogen ausgefüllt.
Die Teilnehmer, die allesamt anonym blieben, erhielten für das Ausfüllen des 15-minütigen Fragebogens 5 Franken. Diese erste Befragung diente als Filter, um jene zu identifizieren, die in der Nacht zuvor draussen oder in einer Notunterkunft geschlafen hatten. Diese Obdachlosen wurden dann gebeten, einen zweiten, längeren Fragebogen auszufüllen und erhielten dafür 10 Franken.
In einigen Einrichtungen erklärte sich mindestens die Hälfte der Anwesenden bereit, die Fragen zu beantworten. «Ich denke, die allgemein positive Einstellung gegenüber der Studie zeigt, dass die Teilnahme nicht hauptsächlich eine finanzielle Frage war, sondern auch eine Gelegenheit für die Menschen, ihre Geschichte zu erzählen und über sich selbst zu sprechen, obwohl es sich um ein strukturiertes Interview gehandelt hat», sagt der Forscher.
Austausch mit anderen Forschern
Wie Obdachlosigkeit gemessen wird, ist von Land zu Land unterschiedlich. Dittmann ist Mitglied eines europäischen Netzwerks aus Forscherinnen und Forschern, die Methoden zur Erfassung von ObdachlosigkeitExterner Link erfassen, austauschen und vergleichen. So konnte sein Team den optimalen Weg finden, um das Thema in der Schweiz zu erforschen.
«In Berlin, Paris und Brüssel hat man grosse Strassenumfragen gemacht, bei denen man die Obdachlosen gezählt hat, die draussen schlafen», erklärt Young. «Wir haben uns aus verschiedenen Gründen dagegen entschieden, vor allem, weil wir nicht genug Ressourcen hatten.»
Die nordeuropäischen Länder sind in ihren Erhebungen konsistenter. «Es gibt skandinavische Länder, die Obdachlosigkeit registriert haben. Von Dänemark, glaube ich, sehen wir regelmässig alle zwei Jahre Zahlen. Aber es gibt immer unterschiedliche Definitionen und jede Definition, jede Methode hat ihre Lücken», sagt Young.
In der Schweiz beziehen sich die verfügbaren Daten oft nur auf eine einzelne Institution und selten auf eine ganze Stadt. Eine frühere Untersuchung der Fachhochschule Nordwestschweiz schätzte, dass in Basel etwa 100 Menschen im Freien oder in Notunterkünften schlafen. Die Stadt Zürich schätzte, dass mindestens ein Dutzend Menschen das ganze Jahr über auf der Strasse schlafen.
Und wie weiter?
Auch wenn sich Obdachlosigkeit nur schwer quantifizieren lässt, ist die Forschungsarbeit dennoch wichtig. Denn um eine Situation ändern zu können, muss sie erst einmal bekannt sein. «Unser Ziel ist es, Daten für den sozialen Wandel zu liefern», sagt Young. So liessen sich politische Massnahmen gegen Obdachlosigkeit schaffen und überprüfen. «Das mag ein Grund gewesen sein, der einige Menschen zur Teilnahme motiviert hat; für einige Institutionen war es sicherlich eine Motivation.»
In einer am 24. November verabschiedeten ResolutionExterner Link forderten die Europaparlamentarier in Brüssel die EU und ihre Mitgliedsstaaten auf, das Problem der Obdachlosigkeit bis 2030 zu lösen. In der Schweiz gibt es noch keine landesweite Strategie gegen Obdachlosigkeit. Die Forscher hoffen, dass ihre Ergebnisse das ändern werden.
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