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Palliative Care: Kann man in der Schweiz friedlich sterben?

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© Keystone / Gaetan Bally

Der assistierte Suizid in der Schweiz erregt immer wieder internationale Aufmerksamkeit. Aber wie steht es um die Palliativmedizin, eine weitere Möglichkeit, Menschen am Ende des Lebens zu begleiten? Antworten auf die wichtigsten Fragen.

«Ich gehe in die Schweiz.» In einigen Ländern steht dieser Satz synonym für den Entscheid zum Freitod. Die Schweiz gehört zu den international «führenden», den liberalsten Ländern bei der Sterbehilfe. Rund 1500 Personen wählen pro Jahr den assistierten Suizid in der Schweiz, darunter auch Zugereiste.

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Aber die Schweiz ist kein Musterland, wenn es ums Sterben geht.

In der Palliativmedizin hat sich noch viele Aufgaben zu lösen. Laut einer internationalen Studie, die 2022 von Forschenden aus Singapur und den USA veröffentlicht wurdeExterner Link, liegt sie in «der Rangliste der Länder mit der besten Sterbequalität» nur auf Platz 13 von 81 Ländern. An erster Stelle steht das Vereinigte Königreich, das Ursprungsland der Palliativmedizin.

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Die Umfrage untersuchte die Qualität der Palliativversorgung auf Basis eines Fragebogens, der an Experte:innen in jedem Land verschickt wurde. Das Resultat: Die Schweiz schneidet in Bezug auf die psychische Betreuung der Patient:innen und die Möglichkeit, an einem Ort ihrer Wahl zu sterben, wie zum Beispiel in einem Krankenhaus, einem Hospiz oder zu Hause, nicht gut ab.

>>Ausführliche Länderberichte finden Sie auf dieser SeiteExterner Link.

Wie viele Palliativbetten gibt es in der Schweiz?

Laut der Schweizerischen Gesellschaft für Palliative Medizin, Pflege und Begleitung (palliative.chExterner Link) ist die Zahl der spezialisierten und zertifizierten Palliativbetten von 375 im Jahr 2021 auf 393 im Jahr 2022 gestiegen. Dieser Anstieg ist auf die Zertifizierung zweier neuer Stationen zurückzuführen. In 26 der schweizweit 35 zertifizierten Langzeitinstitutionen (Alters- und Pflegeheimen) wurden 2022 insgesamt 3’736 Betten betrieben.

Das Label «qualité palliativeExterner Link» wurde 2010 im Rahmen der nationalen Palliative-Care-Strategie in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) und der Gesundheitsdirektorenkonferenz der Kantone (GDK) eingeführt. Akkreditierte Einrichtungen bieten eine qualitativ hochwertige Palliativversorgung und müssen nachweisen, dass sie definierte Qualitätsstandards erfüllen.

Fast 80% der Menshen, die in einer palliativen Situation sind, können im Rahmen der allgemeinen Palliative Care behandelt werden – das heisst zu Hause, in einer sozialmedizinischen Institution wie Alters- und Pflegeheimen oder im Akutspital.

Bei 20% der Patient:innen kann wegen einer instabilen Krankheitssituation, einer komplexen Behandlung oder Überlastung von Bezugspersonen spezialisierte Palliative Care notwendig sein. Auch spezialisierte Palliative Care kann im Spitalbereich, im Langzeitbereich also den Pflegeheimen oder sogar im ambulanten Bereich, also zu Hause, angeboten werden.

Die Anzahl der Betten ist jedoch nicht ausreichend. Gemäss Empfehlung der European Association for Palliative Care werden für 1 Million Einwohner:innen 100 spezialisierte Palliativbetten benötigt. In der Schweiz mit ihren 8,7 Millionen Einwohner:innen wären dies 870 Betten, mehr als das Doppelte der zurzeit verfügbaren Zahl.

Nach Angaben des Bundesamts für GesundheitExterner Link verfügen sechs der 26 Kantone über kein einziges spezialisiertes Palliativbett, darunter Uri und Schaffhausen.

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Hospize und Langzeitpflegeeinrichtungen sind zudem überproportional in städtischen Gebieten wie Zürich, Genf und Basel angesiedelt.

>>Um sich über Pflegeheime und Palliativstationen im Land zu informieren, sehen Sie sich diese KarteExterner Link an.

Das Problem ist nicht nur die regionale Ungleichheit. Laut einem Bericht der Universität BernExterner Link wollen über 70% der Menschen in der Schweiz zu Hause sterben. In der Gruppe der unheilbar Kranken aber sterben 79% der Patient:innen in Krankenhäusern oder Pflegeheimen.

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In einem Interview mit medinside.chExterner Link, erklärt David Blum, Experte für Palliativmedizin und Assistenzprofessor an der Universität Zürich: «Viele Patientinnen und Patienten leben allein zu Hause. Ein Partner allein reicht oft nicht aus, um die Pflege zu übernehmen.» Mobile Palliativdienste müssten deshalb gestärkt werden, sagt Blum.

Wie entwickelt sich die Nachfrage nach Palliativpflege?

Die meisten Menschen, die in der Schweiz palliativmedizinisch betreut werden, sind Krebs-Patient:innen. Gemäss dem Bundesamt für GesundheitExterner Link wurden 5’990 Personen oder 12% der im Jahr 2018 im Spital verstorbenen Personen palliativ betreut, mehr als 80% davon hatte Krebs.

Der potenzielle Bedarf an Palliativversorgung ist nach Schätzungen des Meinungsforschungsunternehmens INTERFACEExterner Link noch weitaus höher und wird mit der zunehmenden Alterung der Bevölkerung voraussichtlich weiter steigen.

Gemäss den populationsbasierten Schätzungen hätten ca. 50’000 Personen Bedarf nach Palliative Care im Jahr 2020, und diese Zahl wird bis 2050 voraussichtlich auf 66’000 ansteigen.

Wie gut ist die Palliativpflege in der Schweiz finanziert?

Seit 15 Jahren arbeitet der Bund im Rahmen der Nationalen Strategie Palliative CareExterner Link (2010–2015) am Ausbau der Infrastruktur, wobei der Schwerpunkt auf Finanzierung, Sensibilisierung sowie der Förderung von Bildung und Forschung liegt. Die Regierung hat zudem eine nationale Plattform lanciert, um den Wissensaustausch zwischen den beteiligten Akteur:innen zu fördern.

Die Palliativversorgung ist jedoch nach wie vor weder für Patient:innen noch für Angehörige der Gesundheitsberufe ein niederschwelliges Angebot.

Denn die Palliativmedizin ist im Bundesgesetz über die Krankenversicherung (KVG) nicht gesondert geregelt. Einige Leistungen werden von der obligatorischen Krankenversicherung nicht übernommen, was zu hohen Kosten für die Patient:innen führen kann.

Palliative-Care-Fachleute kritisieren ausserdem das Finanzierungssystem der Fallpauschale (DRG). Das Prinzip, dass für eine bestimmte Behandlung ein bestimmter Betrag bezahlt wird, werde den Bedürfnissen der Palliativmedizin überhaupt nicht gerecht.

Nach Angaben von H+Externer Link, einem nationalen Verband der öffentlichen und privaten Schweizer Spitäler und Pflegeinstitutionen, sind fast alle Einrichtungen, die Palliativpflege anbieten – darunter Spitäler, Pflegeheime, Spitex und Hospize – unterfinanziert.

Einige Kritiker:innen sehen in diesen strukturellen Mängeln den Grund dafür, dass sich die Palliativversorgung in der Schweiz nicht verbreitet.

Der Bund handelt zögerlich. Im Jahr 2021 hat der Nationalrat eine MotionExterner Link verabschiedet, die der Bundesrat auffordert, die finanziellen Grundlagen für die Palliative Care zu verbessern und die notwendigen Gesetzesänderungen vorzunehmen. 13 Organisationen, darunter H+ und die Spitex (die spitalexterne Hilfe und Pflege), haben erst diesen im November eine gemeinsame Erklärung abgegebenExterner Link, in der sie eine möglichst rasche Umsetzung der Motion fordern.

Editiert von Marc Leutenegger

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