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«Ich mag die Pingeligkeit der Schweizer»

Patricia Golhen
Patricia Golhen leitet ein Team von 20 Mitarbeitenden in einem der schönsten Spas der Schweiz. Olivier Grivat

Sie lebt in Evian, fährt aber fast jeden Tag nach Montreux zur Arbeit. Patricia Golhen leitet einen 5-Sterne-Spa in der Stadt im Kanton Waadt. Die Mutter von zwei kleinen Kindern liebt das Leben auf beiden Seiten des Genfersees. Ein Porträt.

Es ist einer der schönsten Spas an den Ufern des Genfersees – jener des 5-Sterne-Hotels Fairmont Le Montreux PalaceExterner Link. Patricia Golhen herrscht über dieses Reich, wo die Sonnenstrahlen in den Panoramafenstern bereits den Frühling ankündigen.

«Ich denke nicht, dass ich zwischen Evian und Montreux verloren bin. Ich bin in meiner Jugend viel mit meinen Eltern herumgereist. Sie waren Auslandfranzosen in Indonesien, im Niger und an der Elfenbeinküste. Ich wurde in Abidjan geboren, wo ich bis zum Alter von 18 Jahren lebte.»

Wer sind Grenzgänger in der Schweiz?

swissinfo.ch trifft Leute, die tagtäglich die Grenze überqueren, um in verschiedenen Teilen der Schweiz zu arbeiten. Innert 15 Jahren hat sich die Zahl der Grenzgänger von 160’000 auf über 320’000 verdoppelt. Wir widmen ihnen eine Reihe von Porträts, um ihre Motivation, die Herausforderungen und ihre Beziehung zur Schweiz besser verstehen zu können.

Ihr Vater ist Kaufmann im Import-Export: Bananen, Kaffee, Kakao, usw. Als sie alt genug für die Universität ist, zieht sie nach Paris, um Jura zu studieren. Doch nach drei Jahren merkt sie, dass sie nicht dafür geschaffen ist.

In der Hotelschule Vatel entdeckt sie die Welt des Luxus. Ihre ersten Schritte im Hotelwesen macht sie in einem der besten 5-Sterne-Häuser der Welt: im Pariser Hotel George V, das von Prinz Al Walid mit grossem Aufwand renoviert worden und gerade in die Four-Seasons-Kette eingetreten war.

Später arbeitet sie im Hotel Accor, dann im Hilton Arc de Triomphe, wo sie im Eventbereich tätig ist. Dort organisiert sie Veranstaltungen im Zusammenhang mit der Paris Air Show und der Mondial de l’Automobile.

«Ich kümmerte mich auch um Veranstaltungen im Zusammenhang mit Rugby und Basketball (NBA) sowie um klassischere Seminare oder die Lancierung von Automodellen für McLaren», erzählt sie. «Dann wollte es der Zufall, dass mein Mann und ich gleichzeitig Lust hatten, Paris zu verlassen.»

Evian-Montreux im Auto

Der Vorteil der Hotellerie ist, dass man überall auf der Welt arbeiten kann: «Wir haben Angebote aus Spanien und Portugal erhalten, bevor wir auf Evian gestossen sind.» Patricia Golhen und ihr Mann kannten weder Hochsavoyen noch die Schweiz. Im Hôtel Royal in Evian findet sie ihren ersten Job als Verantwortliche für Konferenzen und Veranstaltungen.

«Im Gegensatz zu vielen Grenzgängern bin ich nicht an den Genfersee gezogen, um eine Stelle in der Schweiz zu finden. Deshalb fühle ich mich nicht wirklich als Grenzgängerin.»

«Ich bin nicht an den Genfersee gezogen, um eine Stelle in der Schweiz zu finden. Deshalb fühle ich mich nicht wirklich als Grenzgängerin.»

Das Paar kauft ein Haus in der Nachbargemeinde Neuvecelle. Doch nach einiger Zeit finden sowohl Patricia Golhen wie auch ihr Mann eine Stelle in der Schweizer Hotellerie. Sie im Spa des Montreux Palace, er als Einkaufsleiter des Ritz Carlton Hôtel de la Paix in Genf.

«Ich kannte mich in der Welt der Bäder überhaupt nicht aus, denn ich hatte zuvor nie in diesem Bereich gearbeitet. Man kann vieles im Leben machen, man muss es nur wollen. Als ich die Stellenbeschreibung gelesen hatte, sagte ich: Das ist mein Ding!»

Sie beginnt 2015 als Assistentin. Drei Jahre später leitet sie ein Team von 20 Personen: Manager, Coaches und Therapeutinnen. Da kein Schiff der CGN (Schifffahrtsgesellschaft des Genfersees) die Strecke Evian-Montreux fährt, muss sie täglich mit dem Auto zur Arbeit fahren. Ein Weg dauert dreiviertel Stunden, manchmal mehr. Sie ist täglich eineinhalb Stunden lang unterwegs.

«Es ist alles eine Frage der Organisation», sagt sie. «Mein Mann muss genauer rechnen: Er fährt mit dem Auto nach Genf, aber diese Anreise ist etwas komplizierter. Er fährt um 6 Uhr los und ist um 16 Uhr fertig. Ich beginne zwischen 8:30 und 9 Uhr. Der Spa schliesst um 22 Uhr. Abends ist niemand mehr auf der Strasse.»

Ihre zwei Buben im Alter von vier und acht Jahren besuchen die Schule in Evian. Der Ältere geht ins Judo, wo er mit dem Taxi hinfährt: «Es ist eine fast militärische Planung, aber für mich war es kein Thema, daheim zu bleiben. Ich bin keine Hausfrau. Die Anfahrtswege sind nicht das Ende der Welt.»

«Nicht der Jackpot!»

Unter ihren Nachbarn – von denen fast jeder Zweite in der Schweiz arbeitet – kann es manchmal zu Eifersucht oder Neid kommen. Denn die Schweizer Löhne lassen die Immobilienpreise und die Lebenskosten steigen.

«Einige denken, dass die Grenzgänger mit ihren fetten Autos ‹Snobs› sind, auch wenn das bei mir nicht der Fall ist. Ich definiere mich nicht über mein Auto. Ich habe grosse Lust zu sagen: Probiert es doch selber aus! Es ist nicht der Jackpot! Ich habe nie genaue Berechnungen gemacht, aber es ist nicht sicher, dass die Arbeit in der Schweiz finanziell derart interessant ist.»

«Für mich war es kein Thema, daheim zu bleiben. Ich bin keine Hausfrau. Die Anfahrtswege sind nicht das Ende der Welt.»

Zwar seien die Löhne auf der anderen Seite der Grenze höher, dafür sei aber auch alles teurer, betont Patricia Golhen. «Die Tagesmutter, die sich der Schweizer Löhne bewusst ist, die Autokilometer, Taxifahrten für die Kinder, die lokalen Unternehmer, Sozialversicherungen, usw.»

Komme dazu, «dass wir auch weniger Ferien haben: Fünf Wochen gemäss Gesamtarbeitsvertrag der Hotellerie, gegenüber sechs in Frankreich. Wahrscheinlich verdienen wir schon mehr, aber die Steuern in Frankreich sind auch höher. Auf jeden Fall ist es nicht das Geld, das mich motiviert. Es ist der Job, der mir gefällt!».

Als Verantwortliche für den Spa will sie keine französische Exklave bilden. «Mir gefällt der Mix der Angestellten, ob sie jetzt aus der Schweiz oder aus Frankreich kommen.» Ihr Team von 20 Personen stammt je zur Hälfte aus beiden Ländern. Ein gutes Gleichgewicht, schätzt sie. Gut durchmischt sei auch die Kundschaft, namentlich dank der Stammgäste.

An den Schweizern schätzt die Dreissigjährige deren Zuverlässigkeit und Genauigkeit. «Das ist klar, ordentlich und effektiv. Manchmal sind sie pingelig, das gefällt mir. Und ihre Schwächen? Die Eintönigkeit, und manchmal fehlt ihnen eine gewisse Leichtigkeit. Meine Mutter ist Libanesin, und ich liebe die lateinische Lebensart.»

Schweizer arbeiten nicht gerne im Service

Die Anzahl der französischen Grenzgängerinnen und Grenzgänger in der Schweiz nahm bis Ende 2017 um 0,8% auf 173’175 Personen zu. Ohne sie wäre die Hotellerie am Genfersee aufgeschmissen.

Oft ziehen Bretonen und Normannen in die Nähe der Grenze zur Schweiz und finden eine Arbeit mit dem Ausweis G (Grenzgänger). Sie leben in Frankreich und fahren meist täglich zur Arbeit in die Schweiz.

«Ein Grenzgänger muss mindestens einmal pro Woche nach Frankreich zurückkehren», schreibt die Direktion des Beau-Rivage Palace in Lausanne. «Wir haben Mitarbeitende, die eine Wohnung in der Schweiz mieten, aber den Ausweis G haben, weil sie mindestens einmal pro Woche nach Frankreich gehen.»

Das Juwel der Waadtländer Hotels beschäftigt 535 Mitarbeitende. Ein Viertel (23%) stammen aus der Schweiz, 65% aus Ländern der EU/EFTA. 39% stammen aus Frankreich.

Im Montreux Palace stammen laut dessen Direktor Michael Smithuis von 378 Mitarbeitenden nur 21% aus der Schweiz und 59% aus der EU. 26% der Angestellten sind Franzosen. Allgemein wird bemerkt, dass Schweizerinnen und Schweizer nicht gerne im Service arbeiten und Büroarbeit dem strengen Regime in den Küchen vorziehen würden.

(Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub)

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