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Pendeln hat seinen Preis

Verkehrsstau im Raum Zürich: Pendeln kann die Nerven strapazieren. Ex-press

Die Mehrheit der Schweizer Erwerbstätigen pendelt zur Arbeit, je nach Strecke und Tageszeit in überfüllten Zügen oder auf verstopften Strassen. Pendeln verursacht Kosten und verpestet die Luft. Pendeln schafft aber auch Kontakte und eine gesunde Distanz zur Arbeit.

Immer mehr Leute pendeln immer längere Strecken, um an ihren Arbeitsort zu gelangen. Und dies nicht nur in Metropolen wie London, Moskau oder New York. Auch in der Schweiz arbeiten viele Erwerbstätige ausserhalb ihres Wohnorts. Hauptpendelziel ist Zürich. Jeden Tag reisen per Bahn oder Auto rund 200’000 Leute in die Stadt an der Limmat.

Wenn man die Zahlen der letzten 90 Jahre anschaue, so Simone Grebner vom “Institut Mensch in komplexen Systemen” an der Fachhochschule Nordwestschweiz, könne man annehmen, dass “aufgrund der Globalisierung die Leute immer mehr unterwegs sind und dieser Trend wahrscheinlich anhält”.

Aus internationalen Studien weiss man, dass Leute mit einem höheren Bildungsgrad mehr pendeln, weil sie Wert darauf legen, einen entsprechend guten und interessanten Job zu bekommen, der ihrer Ausbildung entspricht. “Sie können sich das Pendeln auch leisten”, sagt Grebner gegenüber swissinfo.ch.

Die durchschnittlichen Fahrkosten der Schweizer Pendler liegen bei 3% des Gehalts. In einer Studie des Büros für Arbeitsplatzlösungen Regus gaben rund 7% der Befragten an, 10% oder mehr für den Arbeitsweg auszugeben.

Zumutbar, aber belastend

Eine Pendelzeit von zwei Stunden pro Tag findet Simone Grebner zumutbar. Allerdings komme es darauf an, wie belastend der Job sei, den man mache, und welche sonstigen Verpflichtungen im Privat- und Familienleben anstünden. “Muss jemand Kinder betreuen oder kranke Angehörige pflegen, wird das relativ schnell sehr schwierig, wenn man täglich viel unterwegs ist.”

Laut der Expertin für berufliche Gesundheitspsychologie kann man nicht pauschal sagen, dass Pendeln grundsätzlich schlecht sei. Es gebe auch Leute, die sagten, sie wohnten zu nahe am Arbeitsplatz und könnten auf ihrem 5- oder 10-minütigen Weg von der Arbeit nach Hause nicht richtig abschalten. “Man kann also nicht einfach sagen, je weniger, je besser. Je mehr, desto schlimmer stimmt schon eher.”

Gemäss Studien gibt es Leute, die es als belastend empfinden und mit Stress reagieren, wenn sie täglich mehr als zwei Stunden pendeln. “Für andere ist es die einzige Zeit, in der sie Ruhe haben, so zum Beispiel Leute, die kleine Kinder betreuen.”

Sie nutzen dann die Zeit zwischen Zuhause und Arbeit vielleicht, um im Auto Hörbücher zu hören, andere unterhalten sich während der Bahnfahrt mit Co-Pendlern oder lesen ein Buch. So gesehen kann Pendeln auch eine Bereicherung sein.

Erholung ist wichtig

Mehr als eine Stunde pro Weg kann schnell zu einer Belastung werden. Das Problem dabei ist, dass Erholungszeit, Freizeit und Familienzeit knapper werden. Um gesund zu bleiben, brauche der Mensch bestimmte Erholungsphasen, um physiologische Rückstellung zu haben, sagt die Psychologin.

“Wenn die Zeit dazu fehlt, lässt sich nicht viel machen, ausser, dass man in der verbleibenden Zeit erholsame Aktivitäten pflegt.” Es könne durchaus sein, dass jemand langes Pendeln über Jahre hinweg gut ertrage, sich aber dann Langzeitwirkungen offenbarten, die unerwünscht seien.

Besonders stressig kann es sein, wenn man auf gewissen Strecken zu den Hauptverkehrszeiten unterwegs ist. Sei das im Stau auf der Autobahn oder in einer überfüllten S-Bahn, wo man keinen Sitzplatz findet und eingezwängt zwischen Leuten stehen muss. Sich in einem halbleeren Abteil entspannen und in Ruhe etwas lesen oder arbeiten, wäre noch erträglich.

Kommt aber noch eine Panne hinzu und droht eine Verspätung, braucht es nicht mehr viel, bis der eine oder andere an seine Grenzen kommt. “Es ist ungünstig, wenn man dazu neigt, sich in etwas hineinzusteigern, sich aufregt und dann ziellos agiert. Günstig ist, wenn man sich in solchen Situationen überlegt: Was kann ich tun, was ist beeinflussbar, wo kann ich Unterstützung suchen, welche Alternativen gibt es – und dann eine machbare auswählt.”

Der gute Umgang mit Stress sei lernbar und hilfreich für Situationen, in denen es nicht so klappe, wie man das möchte, sagt Grebner. Wichtig sei es auch, im Arbeitsalltag regelmässige Kurz-Pausen einzuschalten, um die Konzentration aufrechtzuerhalten und leistungsfähig zu bleiben.

Die Grenzen des Pendelns

Um das Problem des stundenlangen Pendelns zu entschärfen, eignen sich laut der Dozentin der Nordwestschweizer Fachhochschule alle Modelle flexibler Arbeitszeiten, so die Telearbeit, wo die Mitarbeitenden zum Beispiel einen Tag pro Woche von zu Hause aus tätig sind. Aber auch gleitende Arbeitszeit, Teilzeit oder Jahresarbeitszeit seien Möglichkeiten, um mehr auf individuelle Bedürfnisse einzutreten.

Bis sich solche Modelle vermehrt durchsetzen, wird die Pendler-Mobilität wohl weitergehen. “Allerdings ist die Schweiz mit ihrer Kleinräumigkeit im Vorteil, weil die Pendlerstrecken natürliche Grenzen haben”, sagt Grebner.

Gemäss Resultaten der schweizerischen Volkszählung haben im Jahr 2000 6 von 10 Erwerbstätigen ausserhalb ihrer Wohngemeinde gearbeitet, gegenüber 5 von 10 Personen im Jahre 1990.

Seit der ersten Auswertung der Pendlermobilität im Jahre 1910 ist die Zahl der so genannten Wegpendler laufend gestiegen: 1990: 51,7%, 2000 57,8%.

Trotz dieser Zunahme ist die für den Arbeitsweg aufgewendete Zeit seit 1970 praktisch stabil geblieben.

Das Auto bleibt das bevorzugte Transportmittel, selbst wenn die Bahn in den 90er-Jahren Marktanteile hinzugewonnen hat.

In der Schweiz sind es 65% Autopendler, in den USA 85%, in Japan 23%.

Jeder fünfte Arbeitnehmer weltweit wendet täglich pro Weg zur und von der Arbeit über 90 Minuten auf.

In der Schweiz pendeln nur 4% mehr als 60 Minuten pro Richtung.

Die aufgewendete Zeit pro Richtung beträgt im weltweiten Durchschnitt 25 Minuten, in der Schweiz 22.

Zahlen: Schweizerische Volkszählung 2000 und Studie Bürolösungsanbieter Regus.

Seit August 2009 ist sie Professorin für Angewandte Psychologie am Institut Mensch in komplexen Systemen (MikS).

Zuvor war die doktorierte Psychologin an den Universitäten Bern und Freiburg tätig, an der ETH Zürich, an der Ludwig-Maximilians Universität München und an der Central Michigan University (USA).

Sie ist Expertin für berufliche Gesundheits-Psychologie, für Stress und berufliche Erfolgserlebnisse und deren Auswirkungen auf Gesundheit, Befinden und Leistung.

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