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«Verheerende» Auswirkungen der Pandemie auf das Pflegepersonal

Pflegefachkraft auf einer Intensivstation
Pflegefachkraft auf der Intensivstation für Covid-19-Patienten und -Patientinnen im Universitätsspital Lausanne (CHUV), 6. November 2020. Keystone / Jean-Christophe Bott

Eine Umfrage von swissinfo.ch zu den Arbeitsbedingungen des Pflegepersonals in Schweizer Spitälern kam Anfang 2020 zu einem düsteren Bild: Stress, Unzufriedenheit und Frustration waren weit verbreitet. Hat sich durch die Coronavirus-Pandemie etwas geändert?

«Überstunden sind fast die Regel.» «Es besteht ein enormer Spardruck. Auch Ärzte haben ein hohes Arbeitspensum zu bewältigen, aber zumindest werden sie gut bezahlt.» «Irgendwann hält man es nicht mehr aus und bricht zusammen, aber das ist den Arbeitgebern egal.» «Wenn ich könnte, würde ich den Job wechseln.»

Dies sind einige der Aussagen, die swissinfo.ch Anfang letzten Jahres im Rahmen einer Umfrage zum Alltag von Pflegefachpersonal in Schweizer Spitälern gesammelt hat.

Schon vor dem Ausbruch der Pandemie berichteten viele Pflegepersonen von einer zermürbenden und kaum anerkannten Arbeit. Dabei hatten sie diesen Beruf einst aus Berufung oder Leidenschaft gewählt. Doch mit der Zeit wurden ihre Erwartungen enttäuscht.

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Gut eineinhalb Jahre später hat sich die Situation nicht verbessert. Ganz im Gegenteil. «Die Pandemie hatte verheerende Auswirkungen», sagt Pierre-André Wagner, Leiter der Rechtsabteilung des Schweizer Berufsverbands der Pflegefachfrauen und PflegefachmännerExterner Link

«Wir sind erschöpft»

Die erste Welle sei von den Pflegefachfrauen und Pflegefachmännern noch relativ gut bewältigt worden, denn es habe die Hoffnung bestanden, dass die Pandemie durch den grossen geleisteten Einsatz recht rasch zu überwinden sei, erinnert sich Wagner.

«Als die Krankenpfleger:innen jedoch erkannten, dass sich weder die Arbeitsbedingungen noch die Löhne verbessern würden, machten sich Resignation, Wut und Frustration breit. Die Bevölkerung spendete Applaus und lobte ihre Arbeit, aber die Politik unternahm nichts.»

Laut Wagner hat sich die Situation nicht geändert. Mehr noch: «Wir beobachten einen regelrechten Exodus aus der Branche.» Eine Pflegefachkraft nach der anderen habe ihren Job aufgegeben, was die Arbeitsbelastung für die Verbliebenen erhöht habe, so Wagner. Auf den Intensivstationen habe sich der Personalbestand um 10-15 Prozent reduziert.

«Kolleg:innen, die sich vorher nie beschwert haben, sagen nun, dass sie nicht mehr können. (…) Nach 18 Monaten Pandemie sind wir erschöpft. (…) Wir haben keine Zeit mehr, uns so um die Patient:innen zu kümmern, wie wir es nach unseren Grundsätzen gerne tun würden. Ich habe immer öfter ein schlechtes Gewissen gegenüber den Patient:innen», sagt eine Pflegefachfrau, die auf einer Intensivstation in einem Ostschweizer Spital arbeitet, gegenüber der Regionalzeitung SarganserländerExterner Link.

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Selina Madrigali, Intensivkrankenschwester.

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Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Eine Ausstellung zeigt, wie drastisch das Spitalpersonal im Tessin die erste Corona-Welle erlebte.

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Ohne Sparpolitik kein Lockdown

Laut Wagner besteht das einzige «Verdienst» der Pandemie darin, dass eine problematische Situation, wie von swissinfo.ch 2020 bereits aufgezeigt, noch deutlicher geworden sei.

Denn die Probleme hätten sich weiter verschärft. «Es wurde deutlich, dass der Diskurs über die systemische Bedeutung von Pflegefachkräften nicht nur das Gesundheitssystem betrifft, sondern die Gesellschaft als Ganzes.»

Wagner ist selbst Rechtsanwalt und Krankenpfleger. Er verweist auf den im März 2020 verfügten Lockdown mit der Einstellung von nicht lebensnotwendigen Aktivitäten und der Aufforderung an die Bevölkerung, zu Hause zu bleiben.

«Schon unter normalen Umständen arbeiteten die Spitäler in der Schweiz an ihrer Kapazitätsgrenze. In der der Pandemie mussten wir die Gesellschaft ‹abschalten›, um eine Überlastung der Notfall- und Intensivstationen zu vermeiden. Das alles wäre aber nicht nötig gewesen, wenn wir in den vergangenen Jahren im Gesundheitswesen nicht so stark gespart und stattdessen die Zahl der Pflegekräfte erhöht hätten.»

Am 28. November 2021 wird das Schweizer Stimmvolk über die Volksinitiative «Für eine starke Pflege»Externer Link abstimmen. Die vom Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK) lancierte Initiative fordert mehr Investitionen in die Ausbildung qualifizierter Pflegekräfte in der Schweiz und bessere Arbeitsbedingungen.

Nur so könne die steigende Zahl pflegebedürftiger Menschen bewältigt und die Abhängigkeit vom Ausland verringert werden. Laut SBK stammt rund ein Drittel des Pflegepersonals aus dem Ausland.

Ausführliche Informationen zur Initiative und zum Gegenvorschlag des Parlaments finden Sie hier.

Gemäss Wagner hat die Pandemie jedoch auch eine positive Wirkung gehabt, zumindest auf den ersten Blick. «Die Zahl der Einschreibungen in Krankenpflegeschulen hat leicht zugenommen, was wahrscheinlich auf das gestiegene Ansehen des Berufs in der Öffentlichkeit zurückzuführen ist. Ich befürchte jedoch, dass dies nur ein vorübergehendes Phänomen ist: Die Enttäuschung der Studierenden wird sehr gross sein, sobald sie mit der Realität des Berufs konfrontiert werden.»

Schlechte Bezahlung

Gemäss dem Schweizerischen GesundheitsobservatoriumExterner Link (Obsan) steigen mehr als 40% der Pflegefachkräfte vorzeitig aus dem Beruf aus. Ein Drittel von diesen sei jünger als 35 Jahre.

Eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen würde die Zahl der vorzeitigen Abgänge verringern und damit dem Fachkräftemangel in der Pflege entgegenwirken: Zu diesem Schluss kommt eine Ende Oktober veröffentlichte Langzeitstudie der Zürcher Hochschule für Angewandte WissenschaftenExterner Link (ZHAWExterner Link).

Die Studie zeigt auf, dass die Erwartungen an das Berufsleben nicht mit der wahrgenommenen Arbeitsrealität übereinstimmen. Sechs Jahre nach dem Einstieg ins Berufsleben können sich laut Studienleiter René Schaffert neun von zehn diplomierten Pflegefachkräften zwar vorstellen, auch in den nächsten zehn Jahren in diesem Beruf zu arbeiten, allerdings nur, wenn sich die Arbeitsbedingungen verbessern.

Menschen, die zur Unterstützung des Pflegepersonals protestieren
Demonstration des Pflegepersonals für bessere Arbeitsbedingungen, Luzern, 27. Oktober 2020. Keystone / Urs Flüeler

Die Untersuchung zeigt auch Diskrepanzen zwischen den Erwartungen und der Realität in anderen Bereichen auf, etwa dem Gehalt oder der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. «Für Pflegefachkräfte ist eine gute Bezahlung nicht das zentrale Thema, aber sie haben das Gefühl, dass sie für ihre Leistung zu schlecht bezahlt werden», so Schaffert.

Zudem erwarten 57% der Befragten mehr Unterstützung durch das Management. Dies weist nach Ansicht von Schaffert «auf ein starkes Bedürfnis nach mehr Wertschätzung durch Arbeitgeber und Gesellschaft hin».

«Die Pflegenden verstehen nicht, warum alle Arbeitgeber-Dachverbände des Gesundheitswesens die Pflegeinitiative, über die am 28. November 2021 abgestimmt wird, ablehnen», meint Wagner von der SBK. «Diese ablehnende Haltung ist ein zusätzlicher Frust-Faktor. Die Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner fühlen sich von ihren eigenen Arbeitgebern verraten.»

Der Medianlohn in der Schweiz beträgt laut Bundesamt für Statistik für diplomierte Pflegefachkräfte 7429 Franken brutto pro Monat (einschliesslich 13. Monatsgehalt), für allgemeines Pflegepersonal 5433 Franken und für Pflegehilfskräfte 5120 Franken. Diese Zahlen werden jedoch vom SBK bestritten.

Das französischsprachige Schweizer Radio und Fernsehen RTS hat sich deshalb direkt an mehrere Spitäler in der Westschweiz gewandt. Das Bruttomonats-Einstiegsgehalt für Pflegefachkräfte liegt gemäss dieser UmfrageExterner Link zwischen 5505 und 7084 Franken. Für spezialisierte Pflegefachkräfte mit 15 Berufsjahren liegt der Lohn zwischen 8078 und 9491 Franken.

Impfung könnte Pflegepersonal entlasten

Für Stefan Althaus, Kommunikationschef der Schweizerischen Spitalvereinigung H+Externer Link ist es verständlich, dass die seit eineinhalb Jahren anhaltende Corona-Pandemie beim Personal Spuren hinterlassen hat. Die Pflegekräfte seien «müde und erschöpft». Zudem habe sich der Mangel an qualifizierten Arbeitskräften verschärft, insbesondere im Bereich der Intensivpflege.

«Man darf jedoch nicht vergessen, dass die Gesellschaft die Möglichkeit hat, das Spitalpersonal durch Impfungen zu unterstützen, da der Impfstoff die Zahl der Spitalaufenthalte reduziert», schreibt Althaus in einer E-Mail an swissinfo.ch.

Der Obsan-Bericht 2021 über die Pflege habe aufgezeigt, dass in Folge der bisherigen Anstrengungen im Bereich der allgemeinen und beruflichen Bildung zwar Fortschritte erzielt wurden, aber noch nicht genügend. «Der Gegenvorschlag zur Pflegeinitiative bietet eine sofortige Lösung für den Fachkräftemangel», so Althaus.

Für den H+-Vertreter kann die Forderung nach besseren Arbeitsbedingungen und mehr Personal nicht auf Verfassungsebene gelöst werden. Es brauche den Dialog zwischen den Sozialpartnern und die Schaffung von finanziellen und tariflichen Rahmenbedingungen für die Spitäler im Rahmen der Grundversicherung des Krankenversicherungs-Gesetzes (KVG).

«Jedes Mal, wenn wir eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen oder des Personalbestands fordern, erhalten wir die gleiche Antwort: Es gibt kein Geld», bedauert Wagner.

Nach Ansicht des SBK-Vertreters handelt es sich um ein sehr komplexes Problem, das weit über die aktuelle Gesundheitskrise hinausreicht: «Das Konzept unseres Gesundheitssystems ist falsch: Es wird als Wirtschaftszweig betrachtet, das rentabel sein soll, obwohl es eigentlich eine öffentliche Dienstleistung sein sollte.»

(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

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