Präventiver Abschuss: Nimmt der Umgang der Schweiz mit dem Wolf den Weg der EU vorweg?
Der Plan der Schweizer Regierung, Wölfe präventiv zu töten, wurde nach Einsprachen teilweise auf Eis gelegt. Doch das Vorgehen Berns könnte ein Zeichen dafür sein, was anderswo in Europa auf den Wolf zukommen wird.
Wenn es darum geht, die Aufmerksamkeit der Medien zu wecken, könnten sich angehende Influencer:innen vom Wolf inspirieren lassen. Das Tier, von dem es in der Schweiz im letzten Jahr etwa 300 Exemplare gab, ist fast täglich in den Nachrichten, wenn über Tötung, Koexistenz und alles dazwischen gestritten wird.
Besondere Aufmerksamkeit erregte der Regierungsbeschluss vom November, der einen präventive Abschuss von bis zu 70 % der Wolfspopulation erlaubte. Der Plan zielte darauf ab, das rasante Wachstum des Raubtiers – die Population nimmt jährlich um 30 % zu – zu bekämpfen. Ebenso die Angriffe auf Nutztiere, die sich zwischen 2019 und 2022 verdreifacht haben.
Seitdem haben sich die Debatten ausgeweitet, und Naturschutzgruppen haben sich an die Gerichte gewandt, wobei es ihnen teilweise gelungen ist, Abschusspläne auf Eis zu legen, vor allem in Graubünden im Südosten der Schweiz.
In der Zwischenzeit gab es indes Berichte über Abschüsse anderswo: Im Kanton Wallis wurden bis zum 2. Januar 21 Wölfe geschossen – von 34, die der Kanton bis Februar töten will.
Mehr
Der Wolf in der Schweiz: Abschiessen oder schützen?
Eine europäische Angelegenheit
Was in der breiten Berichterstattung manchmal untergeht, ist der grenzüberschreitende Charakter des Themas. Wie John Linnell vom Norwegischen Institut für Naturforschung letztes Jahr gegenüber SWI swissinfo.ch erklärte, «ist die ganze Idee des Tötens von Wölfen oder sogar des Managements von Grossraubtierpopulationen derzeit eines der umstrittensten Themen in Europa».
Die Zahlen in der Schweiz sind im Vergleich zum europäischen Gesamtbestand eher gering. Nach einem Rückgang in der Mitte des 20. Jahrhunderts leben heute laut EU-Kommission über 20’000 Wölfe in der Europäischen Union.
Ein «Erhaltungserfolg», der durch strenge Gesetze zum Schutz der sechs auf dem Kontinent verbliebenen «Grossraubtierarten» ermöglicht wurde. Die anderen sind der Braunbär, der Eurasische Luchs, der Iberische Luchs, der Vielfrass und der Goldschakal.
Die Länder mit den grössten Wolfspopulationen – nach Schätzungen aus dem Jahr 2021 – sind mittlerweile Italien (3.307), Rumänien (2.500-3.000), Bulgarien (2.712) und Polen (1.886); im Nachbarland Frankreich leben 783 Wölfe, während sich die deutschen Statistiken auf 158 Rudel beschränken.
Erschwerend kommt hinzu, dass Wölfe – wie Menschen – regelmässig die Grenzen überschreiten. Wie das Schweizer Fernsehen SRF berichtet, streifen neun der Schweizer Rudel durch Gebiete, die sich über eine Grenze erstrecken.
Experte Luigi Boitani von der Universität Rom erzählte SRF sogar von einem markierten Wolf, der 2’000 Kilometer vom Kanton Graubünden in die Slowakei gereist ist.
Wie andere Länder mit dem Wolf umgehen, hat also Auswirkungen auf die Schweiz. Und da andere EU-Länder an strenge EU-Naturschutzvorschriften gebunden sind, würde auch eine gross angelegte Schweizer Abschussaktion aus der Distanz betrachtet eher klein ausfallen.
Da die Wölfe aus den Nachbarländern frei in die Schweiz einreisen können, müsste die Jagd jedes Jahr wiederholt werden, so Boitani gegenüber SRF.
Mehr
Wenn es legal ist, den falschen Wolf abzuschiessen
Brüssels Vorschlag
Der Wechsel der Schweizer Regierung zu einem proaktiven und präventiven Ansatz könnte jedoch ein Vorbote dessen sein, was anderswo auf den Wolf zukommen wird.
Kurz vor Weihnachten schlug die Europäische Kommission vor, den Status des Wolfes von «streng geschützt» auf «geschützt» herabzustufen – ein Schritt, der, wie in der Schweiz, die Regeln für die Bejagung des Raubtiers aufweichen würde.
Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen stellte die Idee als Kompromiss vor und erklärte, die Rückkehr der Wölfe sei zwar eine gute Nachricht für die Artenvielfalt, «aber die Konzentration von Wolfsrudeln in einigen europäischen Regionen ist zu einer echten Gefahr geworden, insbesondere für Nutztiere».
«Um kritische Wolfskonzentrationen aktiver zu managen, haben die lokalen Behörden um mehr Flexibilität gebeten», sagte sie.
Biodiversitätsgruppen zeigten sich unbeeindruckt. In einem offenen Brief von 300 Nichtregierungsorganisationen hiess es, der Vorschlag beruhe auf «anekdotischen» Daten und der Konsultationsprozess werde von der Agrar- und Jagdlobby dominiert.
Einige meinten sogar, von der Leyen habe eine persönliche Agenda; das Pony «Dolly» der Kommissionspräsidentin wurde bekanntlich 2022 in Norddeutschland von einem Wolf getötet.
Die Kommission ihrerseits argumentierte, dass ihr Plan auf einer «gründlichen Analyse» und «neuen Daten über die Zunahme der Populationen und die Auswirkungen» basiere – obwohl einige dieser Daten während eines 18-tägigen Zeitraums im September gesammelt wurden, der nach Ansicht von NGOs nicht lang genug war.
Zurück nach Bern
Trotz der Absicht der Kommission ist es jedoch unwahrscheinlich, dass es in Europa in naher Zukunft zu grossflächigen Keulungen kommen wird.
Die Idee braucht die Unterstützung einer Mehrheit der 27 EU-Mitgliedstaaten und würde auch eine Änderung des internationalen Abkommens erfordern, das der EU-Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie zugrunde liegt: das 1979 in Bern unterzeichnete Übereinkommen über die Erhaltung der europäischen wildlebenden Pflanzen und Tiere und ihrer natürlichen Lebensräume.
Somit könnte die Schweiz (zusammen mit den anderen Nicht-EU-Unterzeichnern der Berner Konvention) ein Mitspracherecht bei der künftigen EU-Wolfspolitik haben.
In diesem Punkt scheint die Unterstützung der Schweiz für den EU-Vorschlag klar zu sein, und das nicht nur wegen ihrer aktuellen Abschussbemühungen: Das Land hat bereits zweimal vorgeschlagen, den Status des Wolfes in der Berner Konvention auf «geschützt» herabzustufen – zuletzt im November 2022.
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch