Verfassungsgericht kippt Verbot der Sterbehilfe
Das deutsche Bundesverfassungsgericht öffnet Suizidwilligen Türen und erklärt das Verbot der "geschäftsmässigen" Sterbehilfe für nichtig. Sterbehilfevereine wie jener des Hamburgers Roger Kusch hatten zwischenzeitlich in der Schweiz Schutz vor dem deutschen Gesetz gesucht.
Eine Live-Übertragung im zweiten Deutschen Fernsehen (ZDF) aus dem Gerichtssaal in Karlsruhe, ausführliche Vorberichterstattung in sämtlichen wichtigen Tages- und Wochenzeitungen: Die Medienaufmerksamkeit liess keinen Zweifel darüber, wie sehr das Thema Sterbehilfe die deutsche Gesellschaft bewegt.
Kein Wunder, betrifft es doch einen der persönlichsten Bereiche des Lebens: das Recht, über den eigenen Tod zu bestimmen. Doch das war in Deutschland bisher erheblich eingeschränkt.
Umstrittener Paragraph 217
§ 217 des Strafgesetzbuchs stellt seit 2015 «die geschäftsmässige Förderung der Selbsttötung» unter Strafe. Ärzte und Sterbehilfevereine drohten bis zu drei Jahren Haft, wenn sie mehr als ein Mal beim Suizid assistierten.
Dabei wird die Geschäftsmässigkeit nicht durch Gewinnabsichten definiert, sondern bereits durch die Wiederholung der Sterbehilfe. Angehörigen oder nahestehenden Personen war eine Hilfe im Einzelfall also nicht untersagt.
Mit dem Karlsruher Urteil können nun auch Ärzte und Sterbehilfevereine im rechtssicheren Raum Patienten helfen, ihrem Leben ein Ende zu setzen.
Nun bekräftigten die höchsten deutschen Richter: Der im November 2015 vom deutschen Bundestag beschlossene Paragraph 217, der die «geschäftsmässige Sterbehilfe» verbietet, ist «unvereinbar mit dem Grundgesetz und nichtig», so der Vorsitzende Richter Andreas Vosskuhle.
Der Suizid sei «grundrechtlich geschütztes Verhalten», bekräftigte der Präsident des Verfassungsgerichts bei der Urteilsverkündung. Man könne die Entscheidung eines Menschen, aus dem Leben zu scheiden, bedauern, «aber wir müssen sie akzeptieren».
Dabei schliesse das Recht auf selbstbestimmtes Sterben ein, Hilfe von Dritten in Anspruch zu nehmen. Der Gesetzgeber dürfe Sterbehilfevereine nicht verbieten, könne ihnen jedoch Aufklärungs- und Wartepflichten im Rahmen ihrer Tätigkeiten auferlegen.
Sterbehelfer wichen in die Schweiz aus
Mit dem Richterspruch endet eine fünfjährige Rechtsunsicherheit in Deutschland, wer Suizidwilligen assistieren darf. Für Roger Kusch, einen der bekanntesten und umstrittensten Vertreter der Sterbehilfe in Deutschland, ist das Karlsruher Urteil daher ein Befreiungsschlag. Der Hamburger Rechtsanwalt und frühere Finanzsenator bietet Menschen, die aus dem Leben scheiden wollen, bereits seit 2008 seine Hilfe an.
Da Paragraph 217 Kuschs Verein «Sterbehilfe Deutschland» seine Tätigkeit in Deutschland untersagte, gründete er vor zwei Jahren einen Schweizer Ableger und führt seither von Zürich aus seine Geschäfte weiter. Wer dort für 9000 Euro Mitglied wird, kann sich nach einer ärztlichen Begutachtung im Bedarfsfall das tödliche Medikament von der Schweiz aus durch eine Vertrauensperson nach Deutschland bringen lassen und zuhause sterben.
Weil sein Verein das Mittel dem Patienten nicht anreicht oder verabreicht, machte Kusch sich auch in den vergangenen Jahren nicht der geschäftsmässigen Sterbehilfe strafbar. Zusammen haben Kuschs deutscher und Schweizer Verein rund 500 Mitglieder. «Die meisten sind Deutsche», vermutet er. In der Schweiz gebe es genügend Alternativen. «Die Schweizer brauchen uns nicht. Die haben Exit.»
Druck aus der Ärzteschaft
Der Hamburger war neben Ärzten und Betroffenen einer der Klageführer in Karlsruhe und schon vor dem Urteil sehr optimistisch gestimmt: «Es gibt zahlreiche Hinweise, dass die Richter in unserem Sinne entscheiden», bekräftigte Kusch im Gespräch mit swissinfo.ch.
Das Bundesverfassungsgericht hatte bereits bei einer zweitägigen Anhörung im April 2019 das «Grundrecht auf Suizid» als höher eingestuft als Bedenken gegen die Sterbehilfe. Damit folgen sie der Meinung von Sterbehelfern und Suizidwilligen, die den Paragraphen 217 als Bevormundung und Entmündigung kritisierten. Sie fordern das Recht ein, im eigenen Bett zu einem selbst gewählten Zeitpunkt für immer einzuschlafen, statt sich aus Verzweiflung vor einen Zug zu werfen, Nahrung zu verweigern oder sich in die Obhut von Palliativmedizinern zu begeben.
Aus deutschen Ärzteorganisationen kam hingegen massiver Druck gegen die Lockerung der Sterbehilfe. Sie fürchten, dass auch psychisch Labile oder nur temporär des Lebens Überdrüssige sie in Anspruch nehmen könnten. Die Palliativmedizin sei mittlerweile so weit fortgeschritten, dass niemand am Ende seines Lebens unnötigem Leid und Schmerzen ausgesetzt wäre.
Der Arzt werde «als Sterbehelfer vom Heilenden und Helfenden zum Tötenden», schleuderte der frühere Ärztepräsident Frank Ulrich Montgomery seinem Kontrahenten Roger Kusch in einem langen Streitgespräch in der «Zeit» entgegen.
Kusch will in der Schweiz bleiben
«Die Leute kommen in unseren Verein, weil ihnen sonst niemand hilft», hält Kusch dem entgegen. Sobald das Urteil aus Karlsruhe umgesetzt ist, könnte er seine Dienste auch wieder legal in Deutschland anbieten. Doch festlegen will er sich da nicht. Kusch besitzt kein tiefes Vertrauen in die deutschen Volksvertreter, das klingt durch. Wer weiss schon, ob diese nicht als Reaktion auf das Karlsruher Urteil einen anderen Weg finden, um die Sterbehilfe in Deutschland erneut zu erschweren.
Aber braucht man Kuschs Verein oder andere Sterbehilfeorganisationen nach dem Urteil der Verfassungsrichter überhaupt noch? Schliesslich könnten nun auch wieder jene Ärzte ihren Patienten in Deutschland auf Wunsch beim Suizid assistieren, die in den letzten Jahren aus Angst vor einer Strafverfolgung davor zurückschreckten.
«Für einzelne Sterbewillige wird es weiterhin schwer sein, einen Arzt zu finden, der ihnen hilft», ist Kusch überzeugt. Eine Einschätzung, die Verfassungsrichter Vosskuhle teilt. Man könne selbst bei Rechtsicherheit nur im Ausnahmefall davon ausgehen, dass Ärzte bereit seien, an einer Selbsttötung mitzuwirken. Daher hätten Sterbehilfevereine eine Berechtigung.
Die Berliner Hausärztin Andrea Volkhart bestätigt die Zurückhaltung unter Medizinern: «Ich kenne keinen Kollegen, der es täte.» Ihre persönliche Entscheidung, den Wunsch einer langjährigen Patientin nach Sterbehilfe abzulehnen, begründet sie neben ethischen Zweifeln jedoch auch damit, bisher in dieser Frage «absolut allein im ungesicherten Rechtsraum» gewesen zu sein.
Sterbehelfer Kusch will derweilen auch unter neuer Rechtslage vorerst in Zürich bleiben. Dort sei das Umfeld sehr freundlich, man habe nur gute Erfahrungen gemacht. «Wir bleiben ein Exil-Verein», bekräftigt er, «und werden von Zürich aus unsere Aktivitäten fortsetzen und ausweiten».
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