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Burkaverbot als Tyrannei der Mehrheit?

Seit 2009 ist der Bau neuer Minarette in der Schweiz verboten. Im Bild eines der vier bestehenden Minarette der Schweiz, in Wangen bei Olten. 13 Photo

Minarett-, Burka- und Schächtverbot wurden in der Schweiz an der Urne beschlossen. Werden religiöse Minderheiten in der direkten Demokratie diskriminiert? Ein Professor macht einen brisanten Lösungsvorschlag.

Dieser Beitrag ist Teil von #DearDemocracy, der Plattform für direkte Demokratie von swissinfo.ch.

Seit Juli 2016 ist im Kanton Tessin das Tragen eines Gesichtsschleiers untersagt. Das Tessiner Stimmvolk hat es so beschlossen. Ein Komitee sammelt zurzeit Unterschriften für ein landesweites Verbot. 

Adrian Vatter ist Professor für Schweizer Politik an der Universität Bern. zvg

Seit einem Volksentscheid im Jahr 2009 ist der Bau von Minaretten in der Schweiz verboten. Und bereits 1893 beschloss das Schweizer Stimmvolk, dass das Töten von Tieren durch Kehlschnitt mit anschliessendem Ausbluten ohne Betäubung, das so genannte Schächten, verboten sein soll. Alle diese Verbote treffen ausschliesslich Muslime und Juden. Also religiöse Minderheiten in der Schweiz.

Auch andere Religionen hadern mit dem Volkswillen: So mussten Katholiken in protestantischen Kantonen (und umgekehrt) lange kämpfen, bis ihre Konfession per Volksabstimmung öffentlich-rechtlich anerkannt wurde. Der Jesuitenorden war in der Schweiz seit dem 19. Jahrhundert gänzlich verboten. Erst 1973 stimmte das Volk der Aufhebung des Verbots zu.

Die Autoren des Buches «Vom Schächt- zum Minarettverbot» gehen der Frage nach, ob die direkte Demokratie einen besonderen Schutz für religiöse Minderheiten bietet oder vielmehr zu einer verstärkten Diskriminierung führt.

Dafür werteten sie systematisch alle kantonalen und eidgenössischen Volksabstimmungen aus, die religiöse Gemeinschaften betrafen.

Adrian Vatter (Hrsg.), Vom Schächt- zum Minarettverbot, Religiöse Minderheiten in der direkten Demokratie, Neue Zürcher Zeitung NZZ Libro, 2011.

Führt die direkte Demokratie also zu einer Tyrannei der Mehrheit über Minderheiten? Der Professor für Schweizer Politik, Adrian VatterExterner Link, hat zu dieser Frage geforscht und ein BuchExterner Link publiziert (siehe Box).

Er ist klar der Meinung: «Religiöse Minderheiten haben es schwer in der direkten Demokratie.» Schwerer als andere Minderheiten wie Sprachminderheiten oder Behinderte, die mit ihren Anliegen bei Volksabstimmungen relativ gute Chancen hätten. Noch schwerer als die religiösen Minderheiten haben es gemäss Forschungen jedoch die Migranten. «Weil 90 Prozent der Muslime in der Schweiz Ausländer sind, kumuliert sich das», sagt Vatter.

Religion ist nicht gleich Religion

Vatter und sein Team haben in einem ForschungsprojektExterner Link die Parlamentsentscheide in der Schweiz mit den direktdemokratischen Entscheiden verglichen. «Volksentscheide fallen stärker zu Ungunsten religiöser Minderheiten aus», sagt Vatter. «Allerdings nicht für alle Religionen!»

Es macht laut Vatter einen riesigen Unterschied, ob eine religiöse Minderheit als gesellschaftlich gut integrierte Gruppe mit ähnlichen kulturellen Werten oder als Fremdgruppe wahrgenommen werde. «Beispielsweise wurde die jüdische Minderheit im 19. Jahrhundert als Fremdgruppe wahrgenommen und entsprechend schwierig hatte sie es mit ihren Anliegen an der Urne.»

Heute sei das anders, die jüdische Minderheit werde viel stärker als Teil der schweizerischen Gesellschaft angesehen. «Die muslimische Minderheit hingegen wird von einer Mehrheit als gesellschaftliche Fremdgruppe wahrgenommen, welche die christlich-abendländischen Werte nicht teilt.» Entsprechend schwierig hätten es die Muslime an der Urne.

Auch internationale Ereignisse oder Entwicklungen können erschwerend hinzukommen. So ist das Minarett-Verbot laut Vatter nicht zuletzt wegen des Weltgeschehens angenommen worden. «Es war kein Votum gegen den einzelnen Muslim, sondern gegen den Islam als politische Bewegung.» Wenn eine Religion zahlenmässig zunehme, was beim Islam objektiv der Fall sei, wirke sich das auf die Volksentscheide aus. Kleine Religionsgemeinschaften wie Altkatholiken oder Freikirchen würden weniger als Bedrohung wahrgenommen.

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Sind Parlamentarier offener als das Stimmvolk?

Wenn man das Beispiel Burkaverbot anschaut, fällt auf: Auch in Frankreich und Belgien wurden Burka oder Burkini (das den Körper verhüllenden Badekleid) verboten. Religiöse Minderheiten scheinen auch in repräsentativen Demokratien nicht unbedingt besser vor Diskriminierungen geschützt. Dieses Argument lässt Vatter aber nicht gelten: «Man müsste das zahlenmässig vergleichen.» Entsprechende Untersuchungen gibt es noch nicht.

Vatter erklärt, warum er bei seiner Einschätzung bleibt: «In einer repräsentativen Demokratie entscheidet eine politische Elite, nämlich Parlamentarier und Regierung. Diese sind kein Abbild des Volkes, sondern in der Regel Personen mit höherer Bildung.» Deshalb seien Parlamentsentscheide in Bezug auf die Gewährung von konfessionellen Minderheitenrechten generell etwas offener als Volksentscheide. Aber auch in repräsentativen Demokratien werde die Einstellung der Bevölkerung in politischen Entscheiden ausgedrückt. «Es sind eben beides Demokratien und damit ein Abbild der Präferenzen der Bevölkerung.»

Kollision von Werten

Meist kommt es in der Schweiz erst zu Streit, wenn die Religionsfreiheit mit anderen Werten oder Rechten kollidiert. Einige Beispiele:

  • Beschneidung: Die Beschneidung von Mädchen ist in der Schweiz verboten, jene von Jungen erlaubt, aber umstrittenExterner Link. Die Organisation Pro Kinderrechte Schweiz setzt sich vehement für ein Verbot nicht medizinisch indizierter Beschneidungen an Knaben ein. Die Beschneidung sei eine Verletzung der körperlichen Integrität und eine Menschenrechenrechtsverletzung.
  • Schächten: Während das Schächtverbot 1893 an der Urne teilweise wohl aus antisemitischen Motiven angenommen wurde, wird heute aus Tierschutzgründen am Verbot festgehalten. In der Schweiz dürfen Tiere nur unter Betäubung ausgeblutet werden – genau dies lehnen viele Juden und Muslime aber aus religiösen Gründen ab. Sie behelfen sich mit Importfleisch, was umstrittenExterner Link ist.
  • Aufklärungsunterricht: Einige christliche Gruppierungen lehnen die Evolutionstheorie ab und möchten nicht, dass ihre Kinder Sexualkundeunterricht bekommen. Die meisten Schweizerinnen und Schweizer finden den Aufklärungsunterricht jedoch zum Schutze der Kinder vor sexuellen Übergriffen oder ungewollten Schwangerschaften wichtig.
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Wer soll in solchen Fällen entscheiden dürfen? Soll mittels Volksabstimmung die Mehrheit bestimmen oder brauchen Minderheiten besondere Schutz- und Privilegierungs-Mechanismen zur Wahrung ihrer Interessen, so wie beim Föderalismus?

Vatter ist der Meinung, dass weder die Mehrheit noch die Minderheit entscheiden solle. Sowohl für die Bevölkerung als auch ein Parlament sei die Abwägung schwierig, ob Kindes- und Tierschutz oder Religionsfreiheit wichtiger seien. Er hat einen ganz anderen Lösungsansatz: «Im Idealfall nimmt ein kompetentes Gericht eine Güterabwägung auf Basis der verfassungsmässig verankerten Grundrechte vor.»

Aus demokratischer Sicht ist das ein brisanter Vorschlag, schliesslich handelt es sich bei Gerichten um wenige Einzelpersonen, die den Entscheid fällen. Statt Tyrannei der Mehrheit also eine Richterherrschaft? Dieser Vorschlag dürfte es in der Schweiz schwer haben.

Wer soll Ihrer Meinung nach bei Konflikten zwischen Religion und anderen Werten entscheiden? Diskutieren Sie mit uns in den Kommentaren!

Kontaktieren Sie die Autorin @SibillaBondolfi auf FacebookExterner Link oder TwitterExterner Link.

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