In Zürich gibt es eine jüdische Ambulanz
In Zürich gibt es einen jüdischen Rettungsdienst. Er rettet alle, die Hilfe brauchen – auch in Bagatellfällen. Das ist nur möglich, weil die jüdischen Sanitäter ehrenamtlich und nebenberuflich arbeiten.
Es begann vor dreissig Jahren: Weil der städtische Rettungsdienst zu lange zur Unfallstelle oder dem kranken Patienten brauchte, gründete eine Amerikanerin in Zürich nach New Yorker Vorbild eine jüdische Ambulanz namens «HazolohExterner Link» (Hebräisch für «Rettung»).
Heute ist die städtische Ambulanz schnell genug. Trotzdem gibt es den jüdischen Rettungsdienst noch immer. Warum? Mit Religion hat Hazoloh nichts zu tun, sagt jedenfalls Leiter Samuel Bollag. «Wir retten nicht anders als andere Ambulanzen.» In der Notfallmedizin gebe es auch keine religiösen Vorschriften, da bei Gefahr für Menschenleben alles erlaubt sei. Vielmehr sei die jüdische Ambulanz inzwischen aus dem Gemeindeleben nicht mehr wegzudenken.
Hazoloh ist in einem Punkt einzigartig für die Schweiz. Sie funktioniert gewissermassen nach dem Milizprinzip: Die 14 jüdischen Sanitäter arbeiten nebenberuflich und ehrenamtlich. Sie sind nicht an einem Ort stationiert, sondern je nach Arbeits- und Wohnort über die ganze Stadt Zürich verteilt. Wenn ein Notruf hereinkommt, eilen die sich am nächsten befindlichen Sanitäter direkt zum Patienten – Bollag spricht vom so genannten «First Responder-Prinzip». Hazoloh besitzt für diesen Zweck nebst einer Ambulanz sechs Motorroller, die mit einer kompletten Notfallausrüstung inklusive Defibrillator ausgerüstet sind.
Dadurch ist Hazoloh sehr schnell bei den Patienten. Zudem rückt die Ambulanz auch bei Bagatellfällen aus, wenn sich ein Kind den Kopf gestossen hat beispielsweise. «Weil es eine gemeindeinterne Organisation ist, haben die Leute geringere Hemmungen, zum Telefon zu greifen als beim städtischen Notruf», erklärt Bollag.
Ambulanzen in der Schweiz
Wer in der Schweiz einen medizinischen Notfall erleidet, ruft in der Regel die Nummer 144 an. Die Notrufzentrale alarmiert den für den Standort des Patienten zuständigen Rettungsdienst und bietet gegebenenfalls einen Arzt auf. Aus Kosten- und Ressourcengründen fährt nicht standardmässig ein Notarzt im Rettungsfahrzeug mit.
Ein grosser Teil der Rettungsdienste ist öffentlich-rechtlich organisiert und einem Spital angeschlossen. Daneben gibt es aber eine Reihe privater Rettungsdienste. Meist handelt es sich um gewinnorientierte Unternehmen. Der über Spenden finanzierte Verein Hazoloh ist eine Ausnahme. Es handelt sich um den einzigen konfessionellen Rettungsdienst der Schweiz.
Vorteile einer religiösen Ambulanz
Die jüdische Ambulanz ist laut Bollag qualitativ nicht besser als der städtische Rettungsdienst. Hazoloh bietet für die rund 1000 orthodoxen Juden in Zürich andere Vorteile: Die Sanitäter haben ein Feingefühl für religiöse Gefühle und wissen, was es aus Sicht orthodoxer Juden zu beachten gilt. Ein nichtjüdischer Sanitäter würde bei einem tödlichen Unfall beispielsweise schlicht nicht daran denken, dass das Aufbewahren der Kleidung für die Beerdigung wichtig ist.
In gewissen Fällen ist es laut Bollag auch von Vorteil, dass die Sanitäter Jiddisch oder Hebräisch sprechen, da bei vielen jüdischen Familien in der Schweiz ein Elternteil aus dem Ausland stammt.
Ehrenamtliches Engagement
Die 14 ehrenamtlichen Sanitäter bewältigen 200 bis 300 Einsätze pro Jahr – nebst Beruf und Familie. Samuel Bollag, der seit 24 Jahren bei Hazoloh ist, musste schon häufig wegrennen, sei es von einem Festessen, beim Duschen, Schlafen oder Spazieren… Seine Kinder seien damit aufgewachsen und seine Frau habe seine Tätigkeit immer unterstützt. Doch Bollag räumt ein: «Die Sanitäter und deren Familien gehen ein grosses Engagement ein.»
Finanziert wird Hazoloh übrigens ausschliesslich aus Spenden. Im Unterschied zu anderen privaten Ambulanzen in der Schweiz arbeitet Hazoloh nicht gewinnorientiert. Hazoloh rettet grundsätzlich Menschen aus allen Religionen und Kulturen. Bollag betont aber, dass Hazoloh keine Konkurrenz zur städtischen Sanität sei, im Gegenteil: «Wir arbeiten sehr gut zusammen, wir bieten jeweils den Notarzt der Stadtsanität auf. Wir sind ein eingespieltes Team!»
Judentum in der Schweiz
Jüdisches Leben in der Schweiz ist erstmals ab dem Jahr 1150 archäologisch nachweisbar. Das Mittelalter war geprägt von Pogromen, Verfolgung und Vertreibung, so dass zeitweise praktisch keine Juden mehr in der Schweiz lebten. Erst im späten 16. Jahrhundert siedelten sie sich wieder an.
In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurden sie aus den Städten vertrieben und durften sich nur in den Gemeinden Lengnau und Endingen im aargauischen Surbtal niederlassen. Dort entwickelte sich eine reiche jüdische Kultur und ein für die Schweiz einzigartiges interreligiöses Zusammenleben: So besuchten angeblich christliche Kinder zu Jom Kippur die Synagoge, und viele Ausdrücke des Jiddischen wurden ins Schweizerdeutsche übernommen. Trotzdem dauerte es lange, bis die Juden in der Schweiz gleichberechtigt waren. Erst ab den 1870er-Jahren konnten sie erstmals Wohnort und Beruf frei wählen.
Durch Zuwanderung aus dem Elsass, Deutschland und Osteuropa wuchs die jüdische Bevölkerung der Schweiz von 3000 Personen im Jahre 1850 auf 21’000 im Jahre 1920. Die jüdische Bevölkerung entwickelte sich in dieser Zeit von einer Land- zu einer Stadtbevölkerung.
Während des Zweiten Weltkrieges flohen 28’000 Juden vor dem Nationalsozialismus in die Schweiz. Tausende wurden aber an der Grenze abgewiesen und starben in den Konzentrationslagern, wofür die Schweiz stark in Kritik geriet. Nach dem Krieg mussten oder wollten viele jüdische Flüchtlinge die Schweiz verlassen. Seit der Gründung des israelischen Staates im Jahr 1948 sind etwa 3000 Schweizer Juden nach Israel ausgewandert.
Heute leben noch etwa 18’000 Juden in der Schweiz. Die jüdische Bevölkerung ist sehr heterogen, es gibt Liberale und Orthodoxe sowie aschkenasische und – vor allem in der Westschweiz – sephardische Juden. Wegen der Assimilation und der vielen Mischehen nimmt die Zahl der jüdischen Gemeinden ab. Die grösste Gemeinde gibt es noch in der Stadt Zürich, wo rund 6000 Personen jüdischen Glaubens wohnen, davon etwa 1000 orthodoxe Juden.
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