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Religionsfreiheit existiert auch in den Gefängnissen

Die Kapelle des Gefängnisses von Orbe. swissinfo.ch

In den Schweizer Gefängnissen ist die Religionsvielfalt kein Anlass für Spannungen. Aber die Muslime werden gemäss einer Studie des Schweizerischen Nationalfonds weiterhin stigmatisiert. Eine Begegnung mit zwei Seelsorgern einer Anstalt in der Waadt.

«Wir sind alle in einem Gefängnis.» Das Buch mit diesem Titel liegt wie zufällig auf dem Pult neben den Formularen für ein Besprechungsgesuch sowie dem Zeitplan für die fünf täglichen Gebete des Islams. Wir sind alle in einem Gefängnis. Vielleicht, aber bestimmt nicht in der gleichen Art.

Daniel Levasseur und Philippe Cosandey, ein katholischer und ein protestantischer Seelsorger, kümmern sich im Gefängnis von Orbe (Etablissement de la plaine de L’Orbe, EPO) um Gefangene im eigentlichen Sinn des Wortes. Es sind Insassen, die Strafen von ein paar Wochen bis zu lebenslänglich verbüssen.

Für die beiden Geistlichen spielt dies keine Rolle. Sie wollen von den begangenen Verbrechen nichts wissen. «Wir nehmen den Insassen so an, wie er im Moment ist. Sein Delikt ist bereits Vergangenheit. Diese Fähigkeit muss man entwickeln. Es wäre falsch, das Gegenüber dort hinzustellen, wo man es haben möchte», sagt Daniel Levasseur.

Praktisch keine Spannungen

Für die beiden Geistlichen sind die Gefangenen in erster Linie Menschen wie alle andern auch, die es verdienen, angehört zu werden: «Um den Beruf des Gefängnis-Seelsorgers auszuüben, muss man lernen zuzuhören und sich in Frage zu stellen.»

Man müsse offen sein in seiner Theologie, man dürfe nicht seine präzise Linie verteidigen. «Wir sind nicht hier, um unsere Kirche ins Innere des Gefängnisses zu tragen», sagt Philippe Cosandey.

Die beiden Geistlichen kümmern sich um alle Gefangenen, unabhängig von deren Religionszugehörigkeit, und auch um jene, die keinen Glauben haben. Von den rund 250 Gefangenen akzeptieren 95 Prozent, von den Gefängnis-Seelsorgern angehört zu werden. «Die Leute kommen auf uns zu, weil sie mit uns frei reden können. Es ist das einzige Mittel für sie, dem Alltag zu entfliehen», sagt Daniel Levasseur.

Im Gefängnis von Orbe wird Geistigkeit im weiten Sinn verstanden. Ein Mittel, um religiöse Spannungen zu entkräften.

Tatsächlich sind Konflikte aus Gründen der Religionszugehörigkeit in diesem und andern Gefängnissen der Schweiz fast inexistent. «Wir haben uns auf Fachliteratur und Untersuchungen von Kollegen aus Frankreich und England gestützt und Integrations- und Religionsprobleme identifiziert. Wir stellen fest, dass es in der Schweiz überhaupt nicht der Fall ist», sagt Claude Bovay, Ko-Direktor des Schweizerischen Nationalfonds (SNF).

Der Experte erklärt sich die Ausgeglichenheit damit, dass Fragen der Religionsrechte angemessen berücksichtigt werden und damit, dass sich in der Schweizer Gesellschaft generell keine religiöse Radikalisierung ausmachen lässt, die sich in den Gefängnissen widerspiegeln könnte.

Stigmatisierung der Muslime

Obwohl die Gefängnisse in Wirklichkeit kein Übungsfeld für religiöse Eiferer sind und sie mit religiösen Spannungen kaum konfrontiert werden, bleiben in den Köpfen gewisse Vorurteile haften.

«Es gibt in der Schweiz eine Stigmatisierung der Muslime. In den Gefängnissen trifft man die gleichen Verhaltensweisen und Stereotypen an wie in der Gesellschaft. Die Zugehörigkeit zu einer muslimischen Religion wird als starke Abweichung von den schweizerischen Standards betrachtet», sagt Claude Bovay.

Im Gefängnis von Orbe, wo rund 33% Muslime, 33% Katholiken und 11% Protestanten festgehalten werden, stamme die Diskriminierung vor allem vom Gefängnispersonal, sagen die Seelsorger. «Es ist sehr eindeutig, dass einige Mitglieder des Personals Vorurteile gegenüber Muslimen haben. Sie werfen diese alle in den selben Topf», sagt Philippe Cosandey.

Freitags kommen zwei Imame

Das Gefängnis von Orbe hat zwar zwei Imame engagiert, die aber nur für das Freitagsgebet vorbeikommen. Anders als der katholische Seelsorger und sein reformierter Kollege, die den Insassen an vier Tagen pro Woche zur Verfügung stehen, werden die Imame nicht offiziell anerkannt, obwohl die Muslime im Gefängnis so zahlreich sind wie die Katholiken und dreimal so zahlreich wie die Protestanten.

«Wir diskutieren derzeit das Angebot für die Muslime. Es gibt ein Problem, weil uns die Mittel fehlen. Die beiden Imame engagieren sich neben ihrer beruflichen Tätigkeit unentgeltlich im Gefängnis von Orbe», sagt Philippe Cosandey.

Ausserdem sei es schwierig, das passende Angebot zu machen, weil die Muslime – so wie die Christen auch – nicht eine homogene Gruppe seien. «Die Muslime aus Nordafrika zum Beispiel haben ganz andere religiöse Praktiken als jene aus dem Balkan.»

Kompetenzen anerkennen

Vorläufig behelfen sich die Gefängnispfarrer so gut wie möglich, auf die religiöse Vielfalt einzugehen. Eine Aufgabe, die sehr viel Engagement verlangt, aber die oft nicht angemessen anerkannt werde, heisst es in der NFP-Studie. Die reformierten und katholischen Gefängnis-Seelsorger stiessen an die Grenze der Belastbarkeit. Sie müssten ein immer breiteres Spektrum von Religionen abdecken.

Um die Kompetenzen dieser Personen zu anerkennen, sollten Ausbildungen wie jene an der Universität Bern in der ganzen Schweiz gefördert werden. In Bern wird seit 2009 ein Masterstudium angeboten, das speziell auf die Ausbildung von Gefängnispfarrern ausgerichtet ist.

Solches Rüstzeug dürfte sich für die Geistlichen in ihrem schwierigen Umfeld als nützlich erweisen. «Die grösste Schwierigkeit in unserem Beruf ist der Umgang mit dem Gefängnissystem. Unsere Werkzeuge sind Worte, Zuhören, Vertrauen, Solidarität, aber wir sind in einem System tätig, das auf Sicherheit, Gefahr, Rückfallrisiken ausgerichtet ist», sagt Daniel Levasseur.

Das Nationale Forschungsprogramm «Religionsgemeinschaften, Staat und Gesellschaft» (NFP 58) widmet sich der religiösen Landschaft in der Schweiz, die sich in vielen gesellschaftlichen Bereichen stark verändert.

Die Studie hat zum Ziel, Veränderungsprozesse im Bereich Religion wissenschaftlich zu untersuchen, Spannungsfelder auszuloten und einen Beitrag zu deren Lösung zu leisten.

Die Wissenschaftler untersuchen insbesondere  die Integration neuer Religionsgemeinschaften, das Verständnis zwischen verschiedenen Religionen sowie den Zusammenhang zwischen dem Staat und den Religionsgemeinschaften.

Die verschiedenen wissenschaftlichen Arbeiten wurden im Sommer 2007 gestartet. Für die Studie standen insgesamt 10 Mio. Franken zur Verfügung.

NFP  58 umfasst 28 interdisziplinäre Projekte, an denen Forscher  verschiedener Wissenschaftsbereiche teilnehmen: Soziologen, Ökonomen, Pädagogen sowie Kommunikationsexperten.

(Übertragung aus dem Französischen: Peter Siegenthaler)

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