Ritalin-Boom nicht nur medizinisch erklärbar
Die Produktion des rezeptpflichtigen Medikaments Ritalin hat sich innert 10 Jahren fast verzehnfacht. Dies kann nicht nur mit der Behandlung des "Zappel-Philipp"-Syndroms erklärt werden. Ritalin wird auch als Hirndoping-Mittel und Partydroge missbraucht.
Früher nannte man sie POS-Kinder (POS=Psychoorganisches Syndrom), heute werden ihre Schwierigkeiten als Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bezeichnet.
Die neue Bezeichnung trifft den Kern eher, da ADHS-Kinder häufig unkonzentriert sind, vieles anfangen und praktisch nichts zu Ende bringen und meist sehr impulsiv sind. Dieses Verhalten wird oft als Hyperaktivität wahrgenommen.
Neu ist dieses Phänomen nicht, denn der «Zappel-Philipp», den Heinrich Hoffmann 1845 im Kinderbuch «Struwwelpeter» beschreibt, hat genau diese Eigenschaften.
Ritalin wird ADHS-Kindern verabreicht, damit sie sich besser konzentrieren können und weniger «entgleisen».
Der Gebrauch des Ritalin-Grundstoffs Methylphenidat habe sich in der Schweiz seit 1999 rund verzehnfacht, sagt Joachim Gross, Mediensprecher des Schweizerischen Heilmittelinstituts Swissmedic. Novartis selbst will keine genauen Zahlen herausgegeben.
Bessere Präparate
Sind auch die ADHS-Fälle in der selben Quantität angestiegen? «Bei uns nicht, nein. Die diagnostischen Möglichkeiten wurden in den letzten Jahren aber weiter verfeinert» sagt Dr. Daniel Barth, Chefarzt Kinder- und Jugendpsychiatrie in Solothurn, gegenüber swissinfo.ch.
Er führt die massiv gesteigerte Produktion auf mehrere Gründe zurück: Einerseits sei in vielen Ländern die ADHS bislang unterdiagnostiziert worden. Auch sei das Wissen der Bevölkerung um die Eigenheiten der Problematik gewachsen.
Seit die Präparate «nicht nur wenige Stunden, sondern den ganzen Tag über wirken, treten weniger irritierende Tagesschwankungen auf. Dies wirkt sich positiv auf die regelmässige Einnahme aus», sagt der Leiter des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes des Kantons Solothurn.
Relativ neu werde das Präparat heute auch Erwachsenen verschrieben, «weil sich das Syndrom – entgegen der ursprünglichen Einschätzung – in der Adoleszenz meist nicht ‹auswächst›. Im Erwachsenenalter steht aber eher die Unaufmerksamkeit als störend im Vordergrund, nicht mehr die Hyperaktivität», so Barth.
Persönlichkeitsverändernde Wirkung?
Ritalin kann auch eine persönlichkeitsverändernde Wirkung haben, wie die Geschichte von Philipp (Name der Redaktion bekannt) zeigt. Ihm wurde als Elfjähriger Ritalin verschrieben. Rasch verbesserten sich seine schulischen Leistungen, seine Schrift wurde leserlich. Er hatte viel mehr Erfolgsmomente in der Schule und in seiner Umgebung als vorher.
Trotzdem weigerte er sich nach ein paar Wochen, das Medikament weiter einzunehmen, «weil ich gar nicht mehr ich selbst bin», wie Philipp sagte.
Auch Barth möchte nicht jedem ADHS-Kind Ritalin verabreichen: «Nur wenn die positiven Aspekte deutlich überwiegen, ist eine längerfristige Medikation zu rechtfertigen»
In den USA soll Ritalin häufig eingesetzt werden, um Kinder oder Jugendliche «ruhig» zu stellen. Wird das auch in der Schweiz praktiziert?
Stimulanzien seien ungeeignet zum Ruhigstellen, erklärt Barth. «Sie machen wach.» Ritalin wirkt bei ADHS beruhigend, weil es Hyperaktivität und Impulsivität hemmt und die Aufmerksamkeit fördert.
Hirndoping
Für die Zunahme des Ritalin-Verbrauchs tragen aber auch Nicht-ADHS-Betroffene bei. So setzen es Studenten als Aufputschmittel ein, weil sie überzeugt sind, damit die langen Lernphasen besser zu überstehen.
Ruth von Hagen von Suchtinfo Schweiz sagt: «Es handelt sich in gewissem Sinn nicht um illegalen Konsum. Denn Ritalin ist ein anerkanntes Heilmittel.»
Man müsse sich aber fragen, ob unsere Leistungsgesellschaft so weit gehe und fordere, dass sich die Menschen irgendwie aufputschen oder dämpfen. «Es gibt ja verschiedene Substanzen, die man einnehmen kann , dass man immer im richtigen Moment in der richtigen Verfassung ist.»
Ein Fragezeichen zum Ritalin-Konsum von Nicht-ADHS-Patienten setzt die Suchtexpertin auch bei den unbekannten langfristigen Nebenwirkungen. Ihr seien keine entsprechenden Untersuchungen bekannt.
Partydroge?
Es gibt aber auch Menschen, die sich wenig Gedanken um allfällige langfristige Nebenwirkungen machen: Jene, die Ritalin als Partydroge einsetzen. Alexander Bücheli von der Jugendberatung Streetwork der Stadt Zürich konstatiert «eine Zunahme des Ritalin-Probierkonsums».
Als Konsumationsform werde es meist geschnupft. Rauchen oder Spritzen kämen selten vor. «Bei den Konsumformen ist das Spritzen heutzutage eh kein wichtiges Thema mehr. Bücheli weiter: «Wird Ritalin geschnupft, kann die Verzögerungswirkung umgangen werden.» Man erhalte so schneller einen «Kick».
Ritalin als Partydroge scheint trotzdem nicht der Renner zu sein. «Meist beschränkt sich die Einnahme auf einen ein- oder zweimaligen Probierkonsum, da die Konsumenten die Wirkung nicht als spannend genug empfinden», erklärt Bücheli.
«Ritalin ist funktional kalt, es macht wach. Eine ähnliche Wirkung kann man auch mit dem Konsum von Kaffee, Energydrinks oder Guarana erreichen. Bei Kokain, das ja auch wach macht, tritt eine grosse Wirkung auf der Selbstbewusstseins- und der Gefühlsebene auf», so Bücheli.
Und bei Extasy verändere sich die Sinneswahrnehmung, man sehe seine Umgebung anders, es gebe eine extreme Ausschüttung des Glückshormons Serotonin.
«Sich auf eine Sache konzentrieren zu können, wie das beim Ritalin-Konsum geschieht, ist in der Partyszene nicht das Thema. Man will ja nicht nur auf das Licht fokussiert sein oder auf die Musik, sondern es geht um die Kombination», begründet Bücheli den relativ schwachen Effekt, den Ritalin in der Partyszene hinterlässt.
Der Wirkstoff Methylphenidat wurde 1944 erstmals synthetisiert von Leandro Panizzon, der beim schweizerischen Chemieunternehmen Ciba (Heute Novartis) angestellt war.
Damals war es üblich, die Wirkung von neu entwickelten Medikamenten im Selbstversuch zu erproben, so machten es auch Panizzon und seine Ehefrau Marguerite, genannt Rita.
Diese war sehr angetan von diesem Medikament, da sich nach Einnahme des Wirkstoffs ihre Leistung beim Tennisspielen verbesserte. So erhielt das neue Medikament ihren Namen:. Ritalin. Es wird seit 1954 auf dem deutschsprachigen Markt verkauft.
Methylphenidat wirkt an- und aufregend und beseitigt Müdigkeit und Hemmungen.
Ausserdem steigert es kurzzeitig die körperliche Leistungsfähigkeit und blendet Warnsignale wie Muskelschmerzen und Müdigkeit weitgehend aus.
Weiter hemmt Methylphenidat den Appetit und wirkt euphorisierend.
Langfristig angewendet hat Ritalin Suchtpotenzial, jedoch ohne körperliche Abhängigkeit.
Ritalin wird im Sport als Dopingmittel geführt.
Methylphenidat wird unter verschiedenen Marken angeboten: Ritalin LA (USA), Concerta (D, A, CH, USA), Daytrana (USA), Metadate (USA), Equasym (D, A, CH), Medikinet (D, A, CH), Ritalin (D, A, CH), diverse Generika (D).
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